Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Hausrezept Vorlesen
Ein Professor aus Weingarten hat den Deutschen Lesepreis 2016 erhalten – Sein Projekt könnte vielen Kindern helfen
WEINGARTEN - „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“Dieser Satz war für viele in der Kindheit der letzte, den sie hörten, bevor es den Gutenachtkuss gab und das Licht ausging. Generationen entwickelten mit Büchern von Otfried Preußler, Michael Ende oder Wolfgang Hohlbein ganz eigene Vorstellungen von fantastischen Welten. Und wie nebenbei pflanzte sich durch das Vorlesen auch die Sprache aus den Büchern fort. Heutzutage lesen immer weniger Eltern ihren Kindern vor. Dazu kommt, dass viele Kinder häufig über soziale Medien – Facebook und WhatsApp – miteinander reden und dort eine stark vereinfachte Sprache benutzen. Darunter leidet das Ausdrucks- und Lesevermögen.
Die kürzlich veröffentlichte Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) offenbarte in Baden-Württemberg einen drastischen Rückgang der Leistungsfähigkeit von Schülern im Fach Deutsch. An der Pädagogischen Hochschule Weingarten befasst sich Professor Jürgen Belgrad mit dem Problem. Er hat wissenschaftlich belegt, dass Kinder selbst besser lesen können, wenn ihnen regelmäßig vorgelesen wird. Mit seinem Projekt „Leseförderung durch Vorlesen“will er dem Trend entgegenwirken. An Kindergärten und Schulen soll Kindern vorgelesen werden, wenn möglich bald landesweit. Und außerdem sieht der Wissenschaftler in dem Projekt einen Schlüssel, Flüchtlingskindern schnell gutes Deutsch beizubringen.
Das eigene Lesen fällt leichter „Nur noch 30 Prozent der Eltern lesen ihren Kindern vor, davon sind nur acht Prozent Väter.“Es sind Zahlen, die Jürgen Belgrad vorträgt wie andere Wissenschaftler die neuesten Zahlen zur Polareisschmelze. Seit 1990 erforscht der 67-Jährige den Einfluss des Vorlesens auf die Lesefähigkeiten von Schülern. 1996 legte er erste Ergebnisse vor: Bei Drittklässlern zeigte sich, dass regelmäßiges Vorlesen im Unterricht – also mindestens dreimal pro Woche – dazu führt, dass die Kinder selbst deutlich besser lesen und verstehen können. Auf Basis der Forschungsergebnisse hat Jürgen Belgrad in Weingarten das Projekt „Leseförderung durch Vorlesen“entwickelt. Seit 2010 haben mehr als 23 000 Schüler vor allem aus Oberschwaben daran teilgenommen.
„Wir haben beobachtet, dass die getesteten Lesefertigkeiten aller Schüler sich durch regelmäßige Vorlesezeiten verbessert haben. Unabhängig ob Mädchen oder Junge, aus welcher Klassenstufe oder aus welcher Schule, egal ob Werkrealschule oder Gymnasium. Und auch unabhängig von der kulturellen und sozialen Herkunft“, sagt Jürgen Belgrad. Gemessen wird das über den so- genannten Lesequotienten: Zehn Punkte Zunahme dieses Faktors bedeuten etwa eine Schuljahresstufe Lernarbeit. Allein durch regelmäßiges Vorlesen können manche Schüler ein ganzes Schuljahr Rückstand in Sachen Lesekompetenz aufholen. Ein weiterer Effekt: Die Lehrer meldeten einen Wandel im Klassenzimmer. Die Schüler waren ruhiger, entspannter und im anschließenden Unterricht konzentrierter.
„Nebeneinander standen die Muskeltiere am Rand des Abgrunds und schauten mit erhobenem Degen hinüber“, liest Meike Murr. Die dritte Klasse an der Klosterwiesenschule in Baindt im Kreis Ravensburg ist im Bann von Ute Krauses Kinderbuch „Die Muskeltiere“, das die Lehrerin gerade zuklappt. An der Baindter Schule wird seit diesem Schuljahr vorgelesen. Amelie Heberling ist die Klassenlehrerin der Drittklässler, sie hat das Vorlese-Projekt von Jürgen Belgrad an der Schule eingeführt.
Jeden Tag nach der Hofpause nimmt eine Lehrerin ein Buch in die Hand und liest zehn Minuten lang vor. „Man merkt deutlich, wie die Kinder beim Vorlesen zur Ruhe kommen. Wenn sie aufgedreht aus der Pause kommen, ist das Vorlesen eine Art Übergangszeit zum Unterricht.“Trotzdem hören die Kinder gespannt zu. Denn gelesen wird aus Abenteuerbüchern, wie sie für Drittklässler geeignet sind. „Es ist ein sehr aktives Zuhören“, erklärt Amelie Heberling.
Die Klassenlehrerin beobachtet vor allem eine Entwicklung an ihren Schülern: Wem vorgelesen wird, der liest selbst sicherer und flüssiger. Wer selbst besser liest, der liest auch gerne und viel. Und wer viel liest, hat viel Kontakt mit gutem Deutsch. Das wiederum hat unmittelbaren Einfluss auf die Leistungen im Schulfach. „Und nicht nur in Deutsch“, sagt Amelie Heberling. „Wer Aufgabenstellungen und Erklärungen in anderen Schulfächern besser versteht, findet sich auch dort automatisch besser zurecht.“Und noch ein Vorteil ist der Lehrerin nicht entgangen: „Wenn vorgelesen wird, entsteht Kopfkino. Die Kinder brauchen ihre Fantasie, müssen kreativ sein. Im Fernsehen oder Internet brauchen sie das nicht.“Dabei sieht die Lehrerin deutliche Fortschritte im Vokabular der Kinder: „Durch die Vorlese-Literatur wird ihnen ein Wortschatz vermittelt, der dabei hilft, sich viel präziser und vielseitiger auszudrücken.“
„Das Wichtigste ist: Es kostet fast nichts“, sagt Jürgen Belgrad. Man brauche weder zusätzliche Lehrer noch zusätzliches Material – nur ein spannendes Buch und mindestens dreimal pro Woche eine Viertelstunde Zeit. Der ehemalige Kultusminister Andreas Stoch (SPD) fand bereits Gefallen an dem Projekt. „Leseförderung durch Vorlesen“ist in Stuttgart ein Begriff, auch unter Stochs Nachfolgerin Susanne Eisenmann von der CDU. „Prinzipiell begrüßt das Kultusministerium – auch unter seiner neuen Amtsspitze – das Projekt von Professor Belgrad, gerade vor dem Hintergrund der sprachlichen Defizite von Schülerinnen und Schülern in den jüngsten Vergleichsstudien“, teilt das Ministerium mit. Gemeint ist damit die IQB-Studie mit ihrem für die Landesbildungspolitik nicht gerade freundlichen Zeugnis.
Im Orientierungsplan für Kindergärten und Kindertagesstätten hat die „Empfehlung des Vorlesens als Mittel der Sprachförderung“bereits seit 2011 einen Platz und im Bildungsplan nun seit diesem Jahr: „Erzählund Vorlesezeiten sind im Wochenrhythmus verbindlich verankert“, heißt es etwa in den Leitgedanken zum Kompetenzerwerb für das Fach Deutsch in der Grundschule.
Das heißt zumindest schon einmal, dass das Ministerium die Initiative aus Weingarten für die Klassen eins bis vier weiterempfiehlt. Ob und ab wann dieses Vorlesen an Grundschulen verbindlich werden kann, ist unklar. Denn es gibt dabei auch Hürden zu überwinden. „Nicht jede Schule kann zehn Minuten Vorlesezeit täglich so einfach in den Alltag integrieren“, sagt Klassenlehrerin Amelie Heberling. Es braucht dazu Lehrer, denen Vorlesen liegt, sie szenisch und gestisch erzählen können. Das wäre in vielen Fällen eben doch mit einem Mehraufwand an Zeit oder Geld verbunden.
Jürgen Belgrad ist trotzdem absolut überzeugt vom Erfolg seines Projektes. Mit gutem Grund: Vor gut einer Woche hat er in Berlin für „Leseförderung durch Vorlesen“den Deutschen Lesepreis entgegengenommen. Die Fachjury würdigte, dass das Projekt sehr effektiv, fast kostenneutral und leicht umsetzbar sei. „Ich würde mir wünschen, dass es bald in ganz Baden-Württemberg und darüber hinaus Standard wird“, sagt Jürgen Belgrad. Und nicht nur das: Das Projekt hat schon erste Ableger bekommen. Der bemerkenswerteste davon ist sicherlich seit 2015 das „Gestische Vorlesen“. Durch kleine schauspielerische Einlagen und unterstützt mit Bildern und Grafiken sollen Vorleser so Schülern ohne Deutschkenntnisse Geschichten in deutscher Sprache vermitteln. Hier läuft die Erprobung. „Erste Ergebnisse erwarten wir im Frühjahr“, erklärt der Professor. „Aber es sieht sehr vielversprechend aus.“Erste Eindrücke bestätigen offenbar die Erwartung, dass zum Beispiel Flüchtlingskinder sehr viel schneller Deutsch lernen, wenn ihnen einfach vorgelesen wird: Ein Test mit 25 angehenden Bäckerlehrlingen, denen regelmäßig vorgelesen wurde, hat 20 von ihnen einen Ausbildungsvertrag beschert.
Ganz nebenbei wünscht sich Jürgen Belgrad aber noch einen Effekt: Eltern sollen dazu gebracht werden, ihren Kindern wieder mehr vorzulesen.
„Nur noch 30 Prozent der Eltern lesen ihren Kindern vor, davon sind nur acht Prozent Väter.“Professor Jürgen Belgrad (Foto: oej) von der Pädagogischen Hochschule Weingarten