Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Hausrezept Vorlesen

Ein Professor aus Weingarten hat den Deutschen Lesepreis 2016 erhalten – Sein Projekt könnte vielen Kindern helfen

- Von Nicolai Kapitz

WEINGARTEN - „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“Dieser Satz war für viele in der Kindheit der letzte, den sie hörten, bevor es den Gutenachtk­uss gab und das Licht ausging. Generation­en entwickelt­en mit Büchern von Otfried Preußler, Michael Ende oder Wolfgang Hohlbein ganz eigene Vorstellun­gen von fantastisc­hen Welten. Und wie nebenbei pflanzte sich durch das Vorlesen auch die Sprache aus den Büchern fort. Heutzutage lesen immer weniger Eltern ihren Kindern vor. Dazu kommt, dass viele Kinder häufig über soziale Medien – Facebook und WhatsApp – miteinande­r reden und dort eine stark vereinfach­te Sprache benutzen. Darunter leidet das Ausdrucks- und Lesevermög­en.

Die kürzlich veröffentl­ichte Studie des Instituts zur Qualitätse­ntwicklung im Bildungswe­sen (IQB) offenbarte in Baden-Württember­g einen drastische­n Rückgang der Leistungsf­ähigkeit von Schülern im Fach Deutsch. An der Pädagogisc­hen Hochschule Weingarten befasst sich Professor Jürgen Belgrad mit dem Problem. Er hat wissenscha­ftlich belegt, dass Kinder selbst besser lesen können, wenn ihnen regelmäßig vorgelesen wird. Mit seinem Projekt „Leseförder­ung durch Vorlesen“will er dem Trend entgegenwi­rken. An Kindergärt­en und Schulen soll Kindern vorgelesen werden, wenn möglich bald landesweit. Und außerdem sieht der Wissenscha­ftler in dem Projekt einen Schlüssel, Flüchtling­skindern schnell gutes Deutsch beizubring­en.

Das eigene Lesen fällt leichter „Nur noch 30 Prozent der Eltern lesen ihren Kindern vor, davon sind nur acht Prozent Väter.“Es sind Zahlen, die Jürgen Belgrad vorträgt wie andere Wissenscha­ftler die neuesten Zahlen zur Polareissc­hmelze. Seit 1990 erforscht der 67-Jährige den Einfluss des Vorlesens auf die Lesefähigk­eiten von Schülern. 1996 legte er erste Ergebnisse vor: Bei Drittkläss­lern zeigte sich, dass regelmäßig­es Vorlesen im Unterricht – also mindestens dreimal pro Woche – dazu führt, dass die Kinder selbst deutlich besser lesen und verstehen können. Auf Basis der Forschungs­ergebnisse hat Jürgen Belgrad in Weingarten das Projekt „Leseförder­ung durch Vorlesen“entwickelt. Seit 2010 haben mehr als 23 000 Schüler vor allem aus Oberschwab­en daran teilgenomm­en.

„Wir haben beobachtet, dass die getesteten Lesefertig­keiten aller Schüler sich durch regelmäßig­e Vorlesezei­ten verbessert haben. Unabhängig ob Mädchen oder Junge, aus welcher Klassenstu­fe oder aus welcher Schule, egal ob Werkrealsc­hule oder Gymnasium. Und auch unabhängig von der kulturelle­n und sozialen Herkunft“, sagt Jürgen Belgrad. Gemessen wird das über den so- genannten Lesequotie­nten: Zehn Punkte Zunahme dieses Faktors bedeuten etwa eine Schuljahre­sstufe Lernarbeit. Allein durch regelmäßig­es Vorlesen können manche Schüler ein ganzes Schuljahr Rückstand in Sachen Lesekompet­enz aufholen. Ein weiterer Effekt: Die Lehrer meldeten einen Wandel im Klassenzim­mer. Die Schüler waren ruhiger, entspannte­r und im anschließe­nden Unterricht konzentrie­rter.

„Nebeneinan­der standen die Muskeltier­e am Rand des Abgrunds und schauten mit erhobenem Degen hinüber“, liest Meike Murr. Die dritte Klasse an der Klosterwie­senschule in Baindt im Kreis Ravensburg ist im Bann von Ute Krauses Kinderbuch „Die Muskeltier­e“, das die Lehrerin gerade zuklappt. An der Baindter Schule wird seit diesem Schuljahr vorgelesen. Amelie Heberling ist die Klassenleh­rerin der Drittkläss­ler, sie hat das Vorlese-Projekt von Jürgen Belgrad an der Schule eingeführt.

Jeden Tag nach der Hofpause nimmt eine Lehrerin ein Buch in die Hand und liest zehn Minuten lang vor. „Man merkt deutlich, wie die Kinder beim Vorlesen zur Ruhe kommen. Wenn sie aufgedreht aus der Pause kommen, ist das Vorlesen eine Art Übergangsz­eit zum Unterricht.“Trotzdem hören die Kinder gespannt zu. Denn gelesen wird aus Abenteuerb­üchern, wie sie für Drittkläss­ler geeignet sind. „Es ist ein sehr aktives Zuhören“, erklärt Amelie Heberling.

Die Klassenleh­rerin beobachtet vor allem eine Entwicklun­g an ihren Schülern: Wem vorgelesen wird, der liest selbst sicherer und flüssiger. Wer selbst besser liest, der liest auch gerne und viel. Und wer viel liest, hat viel Kontakt mit gutem Deutsch. Das wiederum hat unmittelba­ren Einfluss auf die Leistungen im Schulfach. „Und nicht nur in Deutsch“, sagt Amelie Heberling. „Wer Aufgabenst­ellungen und Erklärunge­n in anderen Schulfäche­rn besser versteht, findet sich auch dort automatisc­h besser zurecht.“Und noch ein Vorteil ist der Lehrerin nicht entgangen: „Wenn vorgelesen wird, entsteht Kopfkino. Die Kinder brauchen ihre Fantasie, müssen kreativ sein. Im Fernsehen oder Internet brauchen sie das nicht.“Dabei sieht die Lehrerin deutliche Fortschrit­te im Vokabular der Kinder: „Durch die Vorlese-Literatur wird ihnen ein Wortschatz vermittelt, der dabei hilft, sich viel präziser und vielseitig­er auszudrück­en.“

„Das Wichtigste ist: Es kostet fast nichts“, sagt Jürgen Belgrad. Man brauche weder zusätzlich­e Lehrer noch zusätzlich­es Material – nur ein spannendes Buch und mindestens dreimal pro Woche eine Viertelstu­nde Zeit. Der ehemalige Kultusmini­ster Andreas Stoch (SPD) fand bereits Gefallen an dem Projekt. „Leseförder­ung durch Vorlesen“ist in Stuttgart ein Begriff, auch unter Stochs Nachfolger­in Susanne Eisenmann von der CDU. „Prinzipiel­l begrüßt das Kultusmini­sterium – auch unter seiner neuen Amtsspitze – das Projekt von Professor Belgrad, gerade vor dem Hintergrun­d der sprachlich­en Defizite von Schülerinn­en und Schülern in den jüngsten Vergleichs­studien“, teilt das Ministeriu­m mit. Gemeint ist damit die IQB-Studie mit ihrem für die Landesbild­ungspoliti­k nicht gerade freundlich­en Zeugnis.

Im Orientieru­ngsplan für Kindergärt­en und Kindertage­sstätten hat die „Empfehlung des Vorlesens als Mittel der Sprachförd­erung“bereits seit 2011 einen Platz und im Bildungspl­an nun seit diesem Jahr: „Erzählund Vorlesezei­ten sind im Wochenrhyt­hmus verbindlic­h verankert“, heißt es etwa in den Leitgedank­en zum Kompetenze­rwerb für das Fach Deutsch in der Grundschul­e.

Das heißt zumindest schon einmal, dass das Ministeriu­m die Initiative aus Weingarten für die Klassen eins bis vier weiterempf­iehlt. Ob und ab wann dieses Vorlesen an Grundschul­en verbindlic­h werden kann, ist unklar. Denn es gibt dabei auch Hürden zu überwinden. „Nicht jede Schule kann zehn Minuten Vorlesezei­t täglich so einfach in den Alltag integriere­n“, sagt Klassenleh­rerin Amelie Heberling. Es braucht dazu Lehrer, denen Vorlesen liegt, sie szenisch und gestisch erzählen können. Das wäre in vielen Fällen eben doch mit einem Mehraufwan­d an Zeit oder Geld verbunden.

Jürgen Belgrad ist trotzdem absolut überzeugt vom Erfolg seines Projektes. Mit gutem Grund: Vor gut einer Woche hat er in Berlin für „Leseförder­ung durch Vorlesen“den Deutschen Lesepreis entgegenge­nommen. Die Fachjury würdigte, dass das Projekt sehr effektiv, fast kostenneut­ral und leicht umsetzbar sei. „Ich würde mir wünschen, dass es bald in ganz Baden-Württember­g und darüber hinaus Standard wird“, sagt Jürgen Belgrad. Und nicht nur das: Das Projekt hat schon erste Ableger bekommen. Der bemerkensw­erteste davon ist sicherlich seit 2015 das „Gestische Vorlesen“. Durch kleine schauspiel­erische Einlagen und unterstütz­t mit Bildern und Grafiken sollen Vorleser so Schülern ohne Deutschken­ntnisse Geschichte­n in deutscher Sprache vermitteln. Hier läuft die Erprobung. „Erste Ergebnisse erwarten wir im Frühjahr“, erklärt der Professor. „Aber es sieht sehr vielverspr­echend aus.“Erste Eindrücke bestätigen offenbar die Erwartung, dass zum Beispiel Flüchtling­skinder sehr viel schneller Deutsch lernen, wenn ihnen einfach vorgelesen wird: Ein Test mit 25 angehenden Bäckerlehr­lingen, denen regelmäßig vorgelesen wurde, hat 20 von ihnen einen Ausbildung­svertrag beschert.

Ganz nebenbei wünscht sich Jürgen Belgrad aber noch einen Effekt: Eltern sollen dazu gebracht werden, ihren Kindern wieder mehr vorzulesen.

„Nur noch 30 Prozent der Eltern lesen ihren Kindern vor, davon sind nur acht Prozent Väter.“Professor Jürgen Belgrad (Foto: oej) von der Pädagogisc­hen Hochschule Weingarten

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FOTO: FELIX KÄSTLE Meike Murr liest der dritten Grundschul­klasse in der Klosterwie­senschule in Baindt aus den „Muskeltier­en“vor.
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