Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Sturm und Drang bedroht das Establishment
Dortmund kämpft den Dauermeister aus München beim 1:0 nieder, die Bundesliga ist spannend wie selten
DORTMUND – Als Pierre-Emerick Aubameyang nach elf Minuten Spielzeit eine feine Hereingabe von Mario Götze mit letzter Kraft und maximal ausgestrecktem linken Bein über die Linie drückte, schien ihn das offenbar noch nicht ausgelastet zu haben. Der 27 Jahre junge Mann schmiss sich als Erstes auf den Boden, um dort Stabilisationsübungen für den Rest seines Körpers zu machen. Drei Liegestütze machte der Stürmer, der gerade sein zwölftes Saisontor erzielt hatte, ein Torjubel, der eine Hommage an einen befreundeten Rapper sein sollte, wie er nach dem Spiel verkündete. Wer an Zeichen glaubt, konnte darin aber auch mehr erkennen, eine Geste mit Symbolkraft: „Horcht her, ihr Bayern, wir sind jünger, wilder, gesunder und forscher als ihr, wir sind hungriger und noch nicht ausgelastet. Wir werden immer weitermachen und uns am Ende das von euch nehmen, was ihr habt: Eure Punkte. Eure Titel. Euren Ruhm.“
Ob das 1:0 des BVB am Samstagabend und die erste Niederlage des gestürzten Tabellenführers aus München verdient war, darüber lässt sich streiten. Die Partie hätte auch anders ausgehen können (siehe Bericht unten) – tat sie aber nicht, und das ist der Unterschied zur Ära Pep Guardiola, als der Ball in den Münchner Reihen fast traumwandlerisch zirkulierte, Siege in knappen Partien erzwungen wurden und an guten Tagen Spiele gegen Dortmund oder den AS Rom schon mal 5:1 oder 7:1 gewonnen wurden.
Was ist los mit den Bayern, ist ihre Fußball-Diktatur tatsächlich nach vier Jahren Herrschaft zu Ende, sind sie fünf Monate nach Pep nur noch eine Art primus inter pares neben Dortmundern, Leipzigern, Hoffenheimern, Kölnern sogar? Kapitän Lahm versuchte, das fehlerhafte Spiel seiner Elf mit eher sarkastischem Humor zu nehmen: „Das ist doch schön für die Liga. Das haben sich doch alle gewünscht.“Insgeheim hätte sich der Jung-Manager in spé aber lieber eine meditativere Saison gewünscht. So wie unter Guardiola, als die Münchner gefühlt bereits an Dreikönig Meister waren und an den finalen Spieltagen Regionalligatalente vorspielen ließen.
So weit dürfte es diesmal nicht kommen, erstmals seit 2009, als Wolfsburg Meister ward, könnte in dieser Saison die Titelfrage womöglich wirklich erst am 34. Spieltag entschieden werden. Die Runde scheint für Bundesliga-Verhältnisse ungewöhnlich verrückt zu werden. Wer im Sommer gewettet hätte, dass die Leipziger nach einem Saisondrittel noch ungeschlagen sind und die Liga drei Zähler vor den Bayern anführen, müsste sich nie mehr um seine Riesterrente Gedanken machen. Tatsächlich sollte die virile Verfassung des Aufsteigers die Bayern und den BVB, die seit sieben Jahren im Duett die Liga dominieren, doch langsam ein wenig bekümmern. Die Moral und die Unerschrockenheit, mit der RB am Freitag in Leverkusen einen 1:2Rückstand drehte, war imponierend, ebenso die Fitness der Spieler und die Kompaktheit und Homogenität, mit der das Team auftritt. „Organisiertes Überfallkommando“, beschrieb die „Süddeutsche Zeitung“ihren Fußballstil. Man könnte auch sagen: Die Leipziger treten beim Rasenball wie Rote Bullen auf. Es könnte ihr Vorteil sein, dass sie nicht ganz so viele Edeltechniker haben wie etwa Hoffenheim, das 2008 als Aufsteiger sogar Herbstmeister wurde, danach aber einbrach.
Gipfelduell am 21. Dezember Glaubt man Thomas Tuchel, Coach der etablierten Stürmer und Dränger aus Dortmund, wird den Leipzigern, gegen die der BVB am zweiten Spieltag mit Pech 0:1 verlor, ein ähnliches Schicksal erspart bleiben. Tuchel traut dem Team von Ralph Hasenhüttl und Sportdirektor Ralf Rangnick alles zu. „Letztes Jahr hatten wir in England das Phänomen Leicester City. Leipzig kann exakt den gleichen Weg gehen, das ist meine Überzeugung, wenn ich sie spielen sehe.“Hasenhüttl hätte sicher nichts dagegen, auch wenn Leipzigs Höhenflug natürlich weniger überraschend kommt. „Vor der Partie haben wir darüber gesprochen, dass wir ein Eisberg sind, man sieht nur einen kleinen Teil davon“, sagte Hasenhüttl, „viel von unserem Potenzial war bisher noch nicht so sichtbar. In Leverkusen habe wir einiges davon gezeigt.“
Zunächst mal schaffte Leipzig das Wunder, die Bayern nach 425 Tagen respektive 39 Spieltagen wieder von der Spitze der Liga zu verdrängen. Ob das von Dauer ist? Am 21. Dezember treten sie zum Gipfel in München an.