Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Schulz sieht seine Zukunft in Berlin
EU-Spitzenpolitiker verkündet Wechsel – SPD kürt Kanzlerkandidaten aber erst im Januar
BERLIN/RAVENSBURG - Mit dem Wechsel von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (Foto: AFP) nach Berlin wächst der Druck auf die SPD in der Kanzlerkandidatenfrage. Schulz gab am Donnerstag in Brüssel bekannt, dass er sein Amt als Parlamentschef nach fünf Jahren Ende Januar aufgibt. Er gilt nun als heißer Anwärter auf den Außenministerposten, sollte Amtsinhaber FrankWalter Steinmeier im Februar zum Bundespräsidenten gewählt werden.
Die SPD könnte Schulz, über dessen Zukunft monatelang spekuliert worden war, auch als Herausforderer ins Rennen gegen Kanzlerin Angela Merkel (CDU) schicken, wenn Sigmar Gabriel nicht will. Der SPD-Parteichef äußerte sich auch am Donnerstag nicht zu seinen Ambitionen. Die SPD wolle am Zeitplan festhalten und den Kanzlerkandidaten erst Ende Januar benennen. Gestern ließ Gabriel verlauten: „Die Entscheidung von Martin Schulz ist eine schlechte Nachricht für Europa – und eine gute für Deutschland.“
Der Rheinländer Schulz ist seit 1974 SPD-Mitglied, gilt als leidenschaftlicher Europäer und beherrscht sechs Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Holländisch). 54 Prozent der Deutschen wünschen sich den 60-Jährigen laut einer Forsa-Umfrage als Außenminister. Auch als möglicher Kanzlerkandidat liegt er vorn. Nach einer Umfrage von TNS Emnid glauben 42 Prozent, Schulz habe die besseren Chancen, während sich 35 Prozent für Gabriel aussprechen.
Bei den Genossen im Südwesten stößt Schulz’ Wechsel auf Wohlwollen. Jedoch warnte Landeschefin Leni Breymaier im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“vor einer vorschnellen Kür und empfahl in Sachen Kanzlerkandidatur eine Mitgliederbefragung. Martin Gerster (SPD), für den Wahlkreis Biberach im Bundestag, riet zur Geduld. Er hält es aber nicht für ausgeschlossen, dass Schulz gegen Merkel antritt. Gerster glaubt, dass Martin Schulz „das Zeug dazu hätte“.
BRÜSSEL - „Mister Europa“, der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, kehrt Brüssel und Straßburg den Rücken. Der 60-Jährige aus Würselen bei Aachen steigt in die Berliner Politik ein, nachdem er 22 Jahre lang im Europäischen Parlament saß. Sein Abgang als omnipräsenter Vorsitzender der Institution eröffnet Spekulationen um seine politische Zukunft – und jene um die SPD-Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl 2017.
Der Posten des Außenministers dürfte Schulz kaum zu verwehren sein, sollte der bisherige Amtsinhaber Frank-Walter Steinmeier im Februar zum Bundespräsidenten gewählt werden. Aber die K-Frage bei den Genossen bleibt weiter offen. Kaum hatte sich Schulz in Brüssel erklärt, war man in Berlin schon um Klarstellungen bemüht. Es bleibe beim Zeitplan, über die Kanzlerkandidatur werde Ende Januar entschieden. Man sei sich noch nicht einmal sicher, ob sich SPD-Chef Sigmar Gabriel bereits entschieden habe, sagt ein Präsidiumsmitglied.
Dass Schulz gegen Gabriel putsche und gegen dessen Willen Kanzlerkandidat werde, sei unvorstellbar, heißt es aus SPD-Kreisen. Schulz’ Entscheidung habe man eng miteinander abgestimmt. In der NRWSPD war schnell eine gemeinsame Linie gefunden: Schulz erhält bei der Bundestagswahl den prestigeträchtigen ersten Listenplatz, ohne sich um einen Wahlkreis kümmern zu müssen – eine Vorzugsbehandlung.
Doch aus der SPD in NordrheinWestfalen kommt auch nach der Wechselankündigung ein klares Bekenntnis zu Gabriel als Kanzlerkandidat. „Der Sigmar muss das machen. Er ist der Richtige“, sagte Axel Schäfer, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, am Donnerstag im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. „Wenn es nächstes Jahr für Rot-Rot-Grün reicht, wird er Bundeskanzler.“
Buchhändler statt Fußballprofi Schulz gilt als Politiker, der die Höhen und Tiefen des Lebens kennt. Eigentlich hatte er Fußballprofi werden wollen, musste aber nach einer schweren Knieverletzung den Traum aufgeben. Er wurde Buchhändler, rang mit Alkoholproblemen, kämpfte sich aber zurück aus dem Loch, mit eiserner Disziplin und unermüdlicher Energie. Schulz’ politische Karriere begann mit 31 Jahren, als er jüngster Bürgermeister Nordrhein-Westfalens wurde. 1994 wurde Martin Schulz ins Europaparlament gewählt, 2012 zum Parlamentspräsidenten. Europas Sozialdemokraten kürten Schulz am 1. Mai 2014 zum Spitzenkandidaten für die Europawahl. Doch schon wenige Wochen später war sein Traum geplatzt, zum Chef der Europäischen Kommission aufzusteigen. Die Genossen zogen den Kürzeren gegen Jean-Claude Juncker und die EVP. Es war politisch die größte Niederlage von Martin Schulz. Mit seiner hartnäckigen Art machte er sich nicht nur Freunde. Italiens Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi bezeichnete Schulz einst als „Kapo“, einen Funktionshäftling in einem Konzentrationslager. Die Beleidigung machte den SPD-Politiker allerdings auch berühmt. Kritisiert wurde Schulz dafür, dass er Tagegelder des EU-Parlaments erhielt, obwohl er im Ausland auf Wahlkampftour war. Das steht dem Parlamentspräsidenten zwar zu, dennoch habe Schulz ein „verschleiertes, unversteuertes Zusatzeinkommen“eingestrichen, lautete der Vorwurf.
In der EU-Schuldenkrise trat Schulz als Widersacher von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf, zu der er einen engen Draht haben soll. Der Sozialdemokrat forderte mehr Einsatz für die Krisenländer. In der Flüchtlingskrise wurde er zum Verbündeten Merkels, prangerte die EUPartner an, weil sie Griechenland und Deutschland im Stich ließen. In letzter Zeit mischte er sich auch in die deutsche Politik ein, forderte einen „Aufstand der Anständigen“gegen Populismus und Fremdenfeindlichkeit.
In Deutschland hat Martin Schulz bislang jedoch selten eine große Rolle gespielt. In den Rankings der populärsten Politiker taucht er nicht auf, trotz seiner Dauerpräsenz in den Medien, wenn es in der EU mal wieder kriselt. Gleichwohl ist er laut einer Umfrage beliebter als sein „Kumpel“Sigmar Gabriel. Die beiden werden künftig öfter an einem Tisch sitzen.