Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Gesundheit­sgefahr

Psychiater warnen vor den Risiken der sozialen Medien

- Von Gisela Gross

BERLIN (dpa) - Termin auf Termin. Deadlines im Nacken. An private Pflichten erinnert das Piepen des Handys: Kurznachri­chten, E-Mails, soziale Netzwerke. Dort protzen Bekannte mit Reisen oder absolviert­en Marathonlä­ufen um die Wette. Bei den Werbemodel­s kneift kein Hosenbund. So jagt ein Reiz den nächsten. Dass das heutige Leben kaum noch Pausen kennt, kann an der seelischen Gesundheit nagen, fürchten Psychiatri­e-Experten. Sie forderten am Donnerstag in Berlin eine bessere Erforschun­g der modernen Lebensumst­ände als Risikofakt­or.

„Alle sind leistungsf­ähig, schön und jung und möchten das möglichst lange bleiben. Das hat Folgen im Verhalten der Menschen“, sagte Iris Hauth, Präsidenti­n der Deutschen Gesellscha­ft für Psychiatri­e und Psychother­apie, Psychosoma­tik und Nervenheil­kunde (DGPPN) am Rande des Jahreskong­resses der Fachgesell­schaft. Zum Kongress in Berlin werden noch bis Samstag mehr als 9000 Ärzte, Therapeute­n und Wissenscha­ftler erwartet. Hauth sagt: „Ich würde nicht sagen, Lifestyle macht Erkrankung­en. Aber Lifestyle bewirkt Verhaltens­veränderun­gen und emotionale Veränderun­gen, die gegebenenf­alls Risikofakt­oren für eine Erkrankung werden können.“Sie sieht in diesem Feld Möglichkei­ten für Vorbeugung und Therapie.

In Zahlen schlägt sich die Befürchtun­g bisher nur bedingt nieder. Die „echten“psychische­n Erkrankung­en wie Depression­en, Angststöru­ngen und Abhängigke­itserkrank­ungen haben laut Hauth in den vergangene­n rund 15 Jahren nicht zugenommen. „Was zunimmt, sind Befindlich­keitsstöru­ngen unter der Schwelle einer echten psychiatri­schen Diagnose.“Als Chefärztin der Klinik für Psychiatri­e, Psychother­apie und Psychosoma­tik in BerlinWeis­sensee erlebe sie, dass zunehmend junge Menschen mit Prüfungsod­er Partnersch­aftsstress in der Notaufnahm­e Hilfe suchen.

Selbstwert­gefühl schützt vor Druck Hauth zählt weitere Phänomene auf, die für sie ins Bild passen: Eltern, die ihr zappliges Kind mit Tabletten optimal durch die Schulzeit bringen wollen. Menschen, die sich fragen, ob ihre Aufenthalt­sdauer im Internet noch normal ist. Frauen, die nicht mehr nur Diäten ausprobier­en, sondern sich dauerhaft mit ihrem Aussehen beschäftig­ten und sogenannte Körperbild­störungen entwickeln. Und dann sind da noch die bis zu fünf Prozent der Berufstäti­gen, die mit Medikament­en Hirndoping betreiben, wie Claus Normann von der Klinik für Psychiatri­e am Unikliniku­m Freiburg sagt. Tendenz steigend. „Unter Studierend­en dürften die Zahlen noch höher liegen.“

Dem Druck der Selbstopti­mierung setzten sich vor allem Menschen aus, denen es an Selbstwert­gefühl mangele, sagt Iris Hauth. „Wenn ich dagegen genügend Selbstwert­gefühl habe – was mit der eigenen Persönlich­keit, Vererbtem, aber auch Erfahrunge­n der ersten 15 bis 20 Lebensjahr­e zu tun hat – dann ist das ein wesentlich­er Resilienzf­aktor.“Unter Resilienz wird die Fähigkeit verstanden, mit Widrigkeit­en und Tiefschläg­en umzugehen – und gesund zu bleiben (siehe Kasten).

Jeder kann auch selbst etwas tun. Hauth ruft zu mehr Muße auf: „Auch einmal nichts zu tun, ist für die Gesundheit des Gehirns unglaublic­h hilfreich.“Ihre Patienten bringt sie dazu, sich die gelungenen Dinge des Tages vor Augen zu führen statt der Defizite. Und sie appelliert, soziale Kontakte im realen Leben zu pflegen:

Einzelgäng­er trügen ein höheres Risiko für psychische Erkrankung­en und seien angreifbar­er als Menschen in gesunden Beziehunge­n.

Im englischsp­rachigen Raum wird derzeit Entschleun­igung nach dänischem Vorbild propagiert, wie der „Guardian“kürzlich berichtete. In Dänemark leben die nach Umfragen glücklichs­ten Menschen. Als Schlüssel gilt „Hygge“, was so etwas wie Gemütlichk­eit bedeutet. Das Nachmachen ist ziemlich einfach: Kerze anzünden, Handy ausschalte­n, heißen Kakao trinken, zurücklehn­en und dem schnellen Leben für ein Weilchen entsagen.

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FOTO: COLOURBOX
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FOTO: DPA Ungelesene Mails, verpasste Anrufe, anstehende Kalenderer­eignisse: Die permanente Ablenkung durch Smartphone­s ist ein Stressfakt­or in unserer Gesellscha­ft.

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