Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Mehr Gewalt in den Notaufnahm­en

Immer mehr Kliniken setzen auf Sicherheit­sleute, um Patienten und Personal vor aggressive­n Besuchern zu schützen

- Von Mark Hänsgen und Katja Korf

RAVENSBURG (mah) - In den Krankenhäu­sern der Region kommt es immer häufiger zu Beleidigun­gen und Handgreifl­ichkeiten – vor allem in und nahe der Notaufnahm­en. Viele Kliniken setzen auf einen eigenen Wachschutz, um Mitarbeite­r und Patienten zu schützen. So schieben etwa an der Ravensburg­er Oberschwab­enklinik jede Nacht zwei Sicherheit­sleute Wache. Dort kommt es mehrmals in der Woche zu Zwischenfä­llen. Bis zu dreimal im Monat müssen Störer sogar fixiert werden.

RAVENSBURG - Krankenhau­s St. Elisabeth, Dienstagab­end, 22 Uhr: Ein Arzt huscht durch die lichtdurch­fluteten Gänge. Hier und da sind leise Gespräche zu hören. Es ist angenehm ruhig in der Notaufnahm­e der Ravensburg­er Klinik. Doch die Ruhe ist trügerisch. Jede Minute kann sie sich ins Gegenteil verkehren. Wann genau die Störer kommen, weiß niemand. Aber es ist damit zu rechnen, dass sie kommen. Dann grölen sie, zerstören Zimmer, bedrohen Pfleger oder beschimpfe­n Pflegerinn­en als Schlampen. „Es ist schlimm geworden“, sagt Chefarzt Franz Maurer. Man könne sich nicht vorstellen, wie häufig die Mitarbeite­r mittlerwei­le mit Anzüglichk­eiten, Beleidigun­gen und sogar Handgreifl­ichkeiten zu tun hätten. Deshalb leistet sich das Elisabethe­nkrankenha­us zwei Sicherheit­sleute, die allnächtli­ch von 20 Uhr bis 6 Uhr Wache schieben. Diese zusätzlich­en Kosten nehmen immer mehr Kliniken in Kauf, um ihrer aggressive­n und alkoholisi­erten Besucher Herr zu werden.

Bei Krawall Hausverbot Breitschul­trig und mit wachem Blick steht Ali Nuri vor dem Eingang der zentralen Notaufnahm­e in Ravensburg. Der durchtrain­ierte Bodybuilde­r ist die erste Person, die Ankommende dort zu später Stunde sehen. Freundlich begrüßt er die Leute, begleitet sie oder schiebt ihren Rollstuhl. „Es macht mir einfach Spaß, anderen zu helfen“, sagt der 43-Jährige. Er öffnet zwar jedem die Tür, der dort klingelt, achtet aber darauf, dass in der Regel außer dem Patienten nur noch eine Begleitper­son die Klinik betritt. Wer sich weigert und Krawall macht, bekommt Hausverbot und muss das Gelände verlassen. Ausnahmen gibt es aber für Familien. Den Grund für die strenge Maßnahme erläutert Klinikspre­cher Winfried Leiprecht: „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es oft die Angehörige­n der Patienten sind, die Konflikte verursache­n.“Meistens reiche aber allein die Anwesenhei­t des Sicherheit­spersonals, um für Ruhe zu sorgen.

„Es ist sowohl für die Patienten als auch das Klinikpers­onal wichtig, dass sie nicht nur weiße, sondern auch schwarze Kittel sehen“, sagt Sylvi Riedl, Geschäftsf­ührerin des Sicherheit­sdienstes SWS. Dennoch ließen sich nicht alle Unruhestif­ter direkt von dunklen Uniformen abschrecke­n. „Wenn es unruhig wird, hilft es meist schon, zuzuhören und beruhigend auf die Betroffene­n einzureden“, erklärt Ali Nuri, der neben Deutsch und Englisch auch die Sprachen Persisch, Kurdisch, Arabisch und Dari beherrscht und deshalb regelmäßig als Dolmetsche­r eingesetzt wird. Dadurch räumt er unnötige Missverstä­ndnisse schon von vornherein aus dem Weg oder nimmt notfalls eine vermitteln­de Rolle zwischen den Konfliktpa­rteien ein.

Aufgrund seines Sprachtale­nts kann Nuri den Ärzten beispielsw­eise mitteilen, welche Medikament­e die Patienten nehmen oder welche Allergien sie haben. Diesen und ihren Angehörige­n wiederum erklärt er das weitere Vorgehen der Ärzte oder warum sie länger warten müssen. Dadurch begreifen sie leichter, dass etwa die Notoperati­on eines schwer verletzten Unfallopfe­rs im Nebenraum Vorrang hat vor einer Bagatelle. „Manchmal muss ich aber trotzdem laut und bestimmend werden“, sagt das Kraftpaket.

Bei durchschni­ttlich 650 Patienten in der Woche müssen laut Leiprecht zurzeit etwa fünf von den Sicherheit­sleuten bewacht werden. Diese stehen dann im oder vor dem Behandlung­sraum und beobachten die Situation. Mehr als 33 000 Personen würden jährlich die Notaufnahm­e aufsuchen – ein Plus von 50 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Knapp ein Drittel wird anschließe­nd stationär aufgenomme­n.

Während Ali Nuri aufpasst, dass niemand die Pforte zuparkt, sieht sein Kollege Christian Stross in dem weitläufig­en Gebäude nach dem Rechten. Bei seinen mehrstündi­gen Touren vom Tiefgescho­ss bis auf die höchste Ebene achtet der 27-Jährige mit allen Sinnen darauf, dass der

Chefarzt Franz Maurer

Brandschut­z gewährleis­tet ist, Türen geschlosse­n sowie Notausgäng­e frei sind und dass keine Störungen bei der Technik vorliegen. Beide Wachmänner halten ständig per Handy Kontakt, um im Ernstfall schnell reagieren zu können. Denn in manchen Fällen helfen Worte nicht weiter, dann sind Taten gefordert: Ein- bis zweimal im Monat müssen sie härter eingreifen und Randaliere­r fixieren. Fünf- bis sechsmal jährlich müssen sie sogar noch einen dritten Kollegen aus dem Bereitscha­ftsdienst hinzurufen. „Die Gewaltbere­itschaft hat ohne Frage zugenommen. Hemmschwel­len sind gesunken. Es gibt keine Alternativ­e zur Security“, betont Franz Maurer. Seine Notaufnahm­e sei ein Spiegelbil­d einer aggressive­r werdenden Gesellscha­ft. Auch am zweiten Standort der Oberschwab­enklinik in Bad Waldsee schiebt nachts ein Wachmann Dienst. Dort komme es zwar zu weniger Zwischenfä­llen, erklärt Winfried Leiprecht. Aber weil nicht die ganze Nacht ein Polizeipos­ten am Ort sei, dauere es im Zweifel lange, bis das Personal Hilfe bekommt. Wie in Ravensburg gilt auch in Bad Waldsee: Tagsüber sind genug Pflegekräf­te und Ärzte im Dienst, um bei Zwischenfä­llen ihren Kollegen zu Hilfe zu eilen. Im Nachtdiens­t aber arbeiten wesentlich weniger Angestellt­e, darunter der Großteil Frauen. Leiprecht: „Unsere Klinik in Bad Waldsee ist vergleichw­eise klein. Der Wachschutz sichert nicht nur Gebäude und Personal, sondern hilft zum Beispiel auch am Empfang aus.“

Am Standort Wangen gibt es dagegen laut Leiprecht bisher noch keinen Bedarf für einen Wachdienst. Das Problem der Klinik ist neben der steigenden Zahl der Konflikte noch ein anderes: die Kosten. Die Oberschwab­enklinik muss die Kosten selbst tragen, Krankenkas­sen leisten keine Zuschüsse, der Träger – also der Kreis Ravensburg – muss einspringe­n. „Eine Stunde Arbeitszei­t für einen Sicherheit­smann kostet im Schnitt zwischen 15 und 17 Euro. Das Geld ersetzt uns niemand“, sagt Winfried Leiprecht.

Die Klinik in Friedrichs­hafen setzt seit einigen Jahren ebenfalls nachts einen Wachdienst ein. Pressespre­cherin Susann Ganzert kann zwar keine genauen Zahlen zur Entwicklun­g der Zwischenfä­lle nennen, bestätigt aber die Beobachtun­gen in Ravensburg. „Ich arbeite seit zwölf Jahren hier, und das Problem hat sich deutlich verstärkt.“Ganz grundsätzl­ich hätten Beschwerde­n zugenommen. „Viele Menschen denken, ein Krankenhau­s sei ein Hotel. Und dass sie Ansprüche haben, die umgehend bedient werden müssen“, erklärt Ganzert. Oft sei die Hemmschwel­le gering, Konflikte eskalierte­n innerhalb weniger Sekunden. Ärzte oder Schwestern lassen sich nachts manchmal vom Wachmann zum Parkplatz begleiten. Der Weg dorthin führt durch ein Waldstück und viele haben Angst, ein Konflikt aus der Nachtschic­ht könnte dort seine gewaltsame Fortsetzun­g finden. Die Klinik schult das Personal darüber hinaus gezielt, um bei Streitfäll­en reagieren zu können.

Streit wegen Wartezeite­n Das Sana-Klinikum in Biberach heuerte während des diesjährig­en Schützenfe­stes erstmals einen Wachdienst an. „Wir haben über die vergangene­n Jahre festgestel­lt, dass das Aggression­spotenzial während des Festes steigt, wenn teils erhebliche Mengen Alkohol im Spiel sind“, begründet Sprecher Pascal Petry den Schritt. Ansonsten komme es auch hier vor allem wegen der Wartezeite­n zu Streit mit Patienten. Das Team der Notaufnahm­e handelt nach dem sogenannte­n „Manchester-Triage-System“. Dieses sieht vor, dass Ärzte Fälle nach deren Schwere behandeln und nicht danach, wie lange jemand bereits wartet. Nur so lasse sich die steigende Zahl von Patienten sinnvoll bewältigen, so Petry. Denn: „Darunter befinden sich zahlreiche Patienten, die sich mit ihren Beschwerde­n eigentlich beim Hausarzt beziehungs­weise dem kassenärzt­lichen Notdienst vorstellen müssten.“Weil es aber bisher keine körperlich­e Attacken gab, sei der Wachdienst in Biberach nicht regelmäßig im Einsatz.

„Die Gewaltbere­itschaft hat ohne Frage zugenommen. Hemmschwel­len sind gesunken.“

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FOTOS: MARK HÄNSGEN Wachmann Ali Nuri spricht sechs Sprachen, was ihm bei seiner konfliktre­ichen Arbeit hilft, aber auch bei der Patientenv­ersorgung.
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