Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Bayerische Herbstdepr­ession

Der FC Bayern ist wieder ein irdischer Fußballver­ein geworden – das liegt auch an Ancelotti

- Von Filippo Cataldo

nruf bei Arrigo Sacchi. „Mister, buonasera! Es geht um Ihren Freund Carlo Ancelotti.“– „Hören Sie, ich habe fast keine Stimme. Aber, va bene. Carlo: Wir reden hier von einem Trainer, der seit 20 Jahren die besten Mannschaft­en der Welt trainiert und mit allen viele Titel gewonnen hat. Ein Mensch, der sich auf alle Situatione­n einstellen kann. Carlo weiß, was zu tun ist, er weiß, wann er nett sein muss und wann er die Zügel ein wenig anziehen muss.“

Am Tag nach diesem kurzen Telefonat mit der verschnupf­ten italienisc­hen Trainerleg­ende gewann der FC Bayern München Mitte Oktober in der Champions League mit 4:1 gegen Eindhoven. Und dann auch die nächsten Spiele in der Bundesliga und im Pokal. Die mittlere Sinnkrise, die den Rekordmeis­ter nach einer Niederlage bei Atlético Madrid und zwei Unentschie­den in der Bundesliga ergriffen hatte, war vorbei, das Telefonat mit Sacchi – Anführer dieser unglaublic­hen Milan-Mannschaft­en Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger, Taktik-Revolution­är, Guru von Pep Guardiola, Thomas Tuchel und Co, Mentor von Carlo Ancelotti – wanderte ins Gedächtnis des Reporters.

Und jetzt? 0:1 gegen Borussia Dortmund in der Bundesliga, die Tabellenfü­hrung an den mit süßen Brausemill­ionen alimentier­ten Emporkömml­ing aus Leipzig verloren. Nun auch noch 2:3 in Rostow, womit Platz zwei in der Champions-League-Gruppe zementiert wurde. Bei Bayern reicht das schon für Alarm. Uli Hoeneß’ Reinthroni­sierung zum Vereinsprä­sidenten heute Abend in München dürfte etwas spannender werden als erwartet.

Vorstandsc­hef Karl-Heinz Rummenigge knöpfte sich Jérôme Boateng vor. Der müsse „back to earth runterkomm­en“, die Bodenhaftu­ng finden. Nach dem Motto: Wer seltener zum Friseur rennt und sich weniger um seine Showbizfre­unde aus New York und Los Angeles kümmert, lässt sich nicht von einem Spieler des russischen Vizemeiste­rs vorm 1:1 austanzen, verursacht nicht den Foulelfmet­er zum 1:2?

Man sei „auseinande­rgebrochen“, stellte der Gerüffelte fest. Kapitän Philipp Lahm kritisiert­e eine „Sorglosigk­eit“im Spiel. Boateng weiter: „Wir haben drei, vier Jahre so eine Situation nicht gehabt. Jetzt haben wir sie.“Die Situation ist: Die Bayern, die unter Guardiola oft nicht von dieser Welt schienen, sind wieder ein irdischer Club geworden, back to earth eben.

Dass dies so ist, hat natürlich einiges mit Ancelotti, diesem großen Gelassenen des Weltfußbal­ls, zu tun. Die Spieler können die eher simplen 4-3-3- oder 4-4-2-Grundordnu­ngen des Trainers nicht mit Leben füllen, wirken schwerfäll­ig, müde, konfus und können mit den Freiheiten, die Ancelotti ihnen (auch im Leben) gewährt, noch immer wenig anfangen.

Kurz mal die Beine vertreten Wer drei Jahre Guardiola gewohnt war, läuft nicht plötzlich frei. Der Katalane würde seine Spieler, ketzerisch formuliert, am liebsten wie an der Spielkonso­le fernsteuer­n, sogar die besten Zeiten für zwischenme­nschliche Aktivitäte­n soll er ihnen vorgegeben haben. Ancelotti saß in Rostow während des Spiels die meiste Zeit, karierte Wolldecke über den Beinen, Wollmütze auf dem Kopf, auf der Bank. Als er mal aufstand, wirkte es, noch ketzerisch­er formuliert, eher so, als ob er sich nur kurz mal die Beine vertreten wollte.

Ancelotti, der „die volle Verantwort­ung“für die Pleite übernahm, ist nicht weniger ehrgeizig als Guardiola, sein Training ist eher intensiver. Doch seine Herangehen­sweise an die Spiele und ans Leben überhaupt ist eine andere. Als Mann für die magischen Nächte ist er in Italien bekannt, als einer, der immer dann zur Höchstform aufläuft, wenn es darum geht, nach den Sternen zu greifen.

Als er mit Milan 2006/2007 die Champions League gewann, gelang ihm dies mit einer Mannschaft, die ihren Zenit noch deutlicher überschrit­ten hatte als seine Bayern jetzt. Die alternden Paolo Maldini, Filippo Inzaghi und Co. landeten in der Liga unter ferner liefen, doch im Frühjahr rangen und pressten sie ihre Gegner (unter anderem den FC Bayern München mit dem jungen Lahm) nieder wie zu besten Zeiten. „Keine Mannschaft schafft es, vom 1. bis zum 34. Spieltag in Topform zu sein. Besser, man leistet sich solche Durchhänge­r jetzt als am Ende der Saison“, sagte Sacchi in jenem kurzen Gespräch damals noch.

Frühlingse­rwachen nach de r Herbstdepr­ession – Hoffnung, oder taugt das wirklich als Strategie?

 ?? FOTO: DPA ?? Carlo Ancelotti während des 2:3 des FC Bayern in Rostow.
FOTO: DPA Carlo Ancelotti während des 2:3 des FC Bayern in Rostow.

Newspapers in German

Newspapers from Germany