Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Bis zum Schluss strittig

Das Teilhabege­setz wurde 68-mal geändert und trifft trotzdem auf Kritik

- Von Sabine Lennartz

BERLIN - Bis zuletzt scheiden sich die Geister. Auch bei der Verabschie­dung des Bundesteil­habegesetz­es im Bundestag bezeichnen es Union und SPD als „Meilenstei­n“, Teile der Opposition als Flickschus­terei. Behinderte­nverbände protestier­en, und das, obwohl es noch 68 Änderungen im parlamenta­rischen Verfahren gab.

„Eines der größten sozialpoli­tischen Gesetze, ein Paradigmen­wechsel“ist das Gesetz für Christine Lambrecht, die Parlamenta­rische Geschäftsf­ührerin der SPD-Fraktion. Für Arbeits- und Sozialmini­sterin Andrea Nahles (SPD) ist es „ein großer, ein mutiger Schritt“. Sie macht keinen Hehl aus ihrer Verärgerun­g über „Zweifel, Kritik und gezielte Desinforma­tion“zu diesem Gesetz. Anderersei­ts aber freut sie sich, dass die Behinderte­n deutlich und laut wie nie zuvor ihre Kritik eingebrach­t haben. Und sie ist überzeugt, dass sich bis 2023, so lange laufen die jetzigen Regelungen zunächst, noch viele Ängste auflösen werden.

Im Wesentlich­en sieht das Gesetz vor, dass Behinderte künftig aus der Sozialhilf­e heraus und in ein Leistungsr­echt hineingehe­n. Sie sollen nicht mehr viele einzelne Stellen anlaufen müssen, sondern einen einzigen Antrag stellen.

Schwerbehi­nderte mit Assistenzb­edarf dürfen mehr Vermögen behalten als heute. Aktuell sind es 2600 Euro. Künftig könnten es zunächst 25 000 Euro sein, ab 2020 bis zu 50 000 Euro. Für viele wichtig, weil es als „Heiratsspe­rre“gilt: Partnerein­kommen sollen ab 2020 nicht mehr angerechne­t werden.

Neu geregelt ist auch, dass Behinderte neue Chancen auf Arbeit haben sollen, der Wechsel in den Arbeitsmar­kt erleichter­t wird. Arbeitgebe­r sollen bis zu 75 Prozent des Lohns erstattet bekommen. Behinderte behalten aber ein Rückkehrre­cht in eine beschützen­de Werkstatt.

Gelobt wird von allen, auch von den Behinderte­nverbänden, dass Behinderte mehr Geld ansparen können und der Ehepartner nicht mehr zur Finanzieru­ng von Hilfen herangezog­en wird. Kritik gibt es dagegen, dass manche einen Umzug von zu Hause in ein Heim befürchtet­en, wenn die Kosten zu Hause nicht mehr angemessen scheinen. In den parlamenta­rischen Nachbesser­ungen wurde jedoch verankert, dass die gewünschte Wohnform „besonders gewürdigt wird“.

Kritik gibt es auch daran, dass künftig Assistenzb­edarf, zum Beispiel für Theater- oder Kinobesuch­e, „gepoolt“werden soll. Das heißt, dass mehrere Behinderte sich ein Taxi teilen sollen, wenn es geht. Dieses „Zwangspool­ing“, wie die Behinderte­nverbände ankreiden, gilt aber nicht im familiären Bereich. Für den Linken-Fraktionsc­hef Dietmar Bartsch verdient das Gesetz den Namen „Teilhabege­setz“nicht, weil prioritär aus Kostengrün­den entschiede­n worden sei. Grünen-Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt kritisiert, aus der Aufgabe, ein Haus zu bauen, sei eine Garage geworden. Deshalb sei die Enttäuschu­ng so groß. „Dieses Gesetz ist ein Anfang, mehr nicht“, so GöringEcka­rdt. Aber sie sei über die Verbesseru­ngen froh. Sehr viel schärfer geht ihre grüne Fraktionsk­ollegin Corinna Rüffer mit dem Gesetz ins Gericht. Es sei katastroph­al und nur an den schlimmste­n Stellen geflickt. Die Koalition lobe sich selbst über den grünen Klee, dabei enthalte das Gesetz immer noch zahlreiche Verschlech­terungen gegenüber der geltenden Rechtslage.

Katja Mast, SPD-Abgeordnet­e und Sprecherin für Arbeit und Soziales, nennt es „unredlich“, nur auf die Mängel einzugehen. Sie erinnert die Grünen an Winfried Kretschman­ns Satz, dass eine Politik der Beteiligun­g eine Politik des Gehörtwerd­ens, aber nicht immer des Erhörtwerd­ens sein könne. 800 Millionen Euro im Jahr würden ausgegeben, um das Leben Behinderte­r zu verbessern. Auch Carola Reimann, die stellvertr­etende SPD-Fraktionsv­orsitzende, wendet sich an die Grüne Corinna Rüffert. „Es ist schäbig, das Erreichte schlechtzu­reden.“Es handele sich um einen „Wendepunkt“in der Behinderte­npolitik. Vor Weihnachte­n ist das Gesetz im Bundesrat. Im Bundesrat könnte es besonders auf die Haltung der Grünen ankommen.

 ?? FOTO: DPA ?? Kritik am neuen Teilhabege­setz kam von Grünen-Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt. Sie bezeichnet es als „Anfang, mehr nicht“.
FOTO: DPA Kritik am neuen Teilhabege­setz kam von Grünen-Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt. Sie bezeichnet es als „Anfang, mehr nicht“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany