Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

„Nach der Reform ist immer vor der Reform“

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Die Förderung von Behinderte­n wird neu geordnet. Die Bundesvors­itzende der Lebenshilf­e und Bundestags-Vizepräsid­entin Ulla Schmidt (SPD) erklärt Tobias Schmidt im Gespräch, welche Stellschra­uben es noch gibt.

Es gibt die Sorge, Behinderte könnten künftig gegen ihren Willen in Heimen untergebra­cht werden. Das ist mit einem Änderungsa­ntrag noch auf den letzten Metern klargestel­lt worden: Vorrang hat, die Menschen ambulant zu versorgen, wenn sie nicht in eine Wohnstätte wollen. Insofern ist die Sorge nun nicht mehr berechtigt. Massive Kritik gab es an der Zusammenle­gung von Leistungen wie Fahrdienst­en: Werden Behinderte bald weniger Möglichkei­ten haben, alleine ins Kino zu gehen? Schon heute wird vieles gepoolt. Und dafür gibt es auch oft gute Gründe. Niemand muss mit einem Taxi in die Werkstatt fahren, das kann mit Bussen erledigt werden. Was nun aber im Gesetz steht: Wenn jemand alleine leben will, wird bei Unterstütz­ungsleistu­ngen für die persönlich­e Lebensgest­altung nicht gepoolt, Leistungen bleiben individuel­l. Gegen den Wunsch des Betroffene­n dürfen Assistenzl­eistungen nicht zusammenge­legt werden, wenn es um den Bereich der Gestaltung sozialer Beziehunge­n und die persönlich­e Lebensplan­ung geht.

Menschen mit Handicap sind doppelt so oft arbeitslos, immer weniger werden speziell gefördert: Bringt das neue Gesetz hier genug Verbesseru­ngen? Berufliche Vorbereitu­ng und schulische Weiterbild­ung werden gestärkt. Überdies richten wir ein Budget für Arbeit ein, sodass Unternehme­n, die Behinderte aus Werkstätte­n übernehmen, 75 Prozent des Lohnes erstattet bekommen. Darüber hinaus weiten wir die Zusammenar­beit mit den Jobcentern aus. Das ist ein Instrument­enkasten, der deutlich mehr Menschen mit Behinderun­gen in den ersten Arbeitsmar­kt bringen kann.

Wie muss die Teilhabe von Behinderte­n denn künftig weiter verbessert werden? Brauchen wir vielleicht schon bald ein Teilhabege­setz II? Ja, natürlich. Nach der Reform ist immer vor der Reform. Der Einstieg bei den Vermögensg­renzen ist nur ein erster Schritt. Und es ist uns nicht gelungen, für Menschen in Wohnstätte­n den gleichen Anspruch auf ambulante Pflegeleis­tungen durchzuset­zen wie bei allein lebenden Menschen. An den Punkten müssen wir weiterarbe­iten. Notwendig ist auch eine engere Verzahnung der Anstrengun­gen von Bund, Ländern und Kommunen.

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FOTO: LAURENCE CHAPERON Ulla Schmidt (SPD)

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