Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kultur ist flexibel

Vortrag an der Akademie der Diözese: Anthropolo­gin Eva Kalny von der Universitä­t Hannover fächert Kulturvers­tändnis auf

- Von Margret Welsch

WEINGARTEN - In Zeiten von Migration ist „Kultur“in aller Munde. Nicht selten, um das Eigene gegen das vermeintli­ch Fremde abzugrenze­n. In ihrem Vortrag „(Miss-)Verständni­s von Kultur“lotete Hochschull­ehrerin Eva Kalny am Mittwoch in der Akademie Kulturdiff­erenzen und die Rolle des Einzelnen darin aus und zeigte Konzepte für gelingende Integratio­n. Statt mit Stereotype­n andere auszugrenz­en, setzt sie auf Kultur als geteilte Lebensprax­is.

Weingarten in seinem Bemühen um Integratio­n von Flüchtling­en zu unterstütz­en und wissenscha­ftlich zu begleiten, das sieht Heike Wagner, Leiterin der Außenstell­e der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, als eine Aufgabe ihrer Bildungsei­nrichtung. So war denn die Stadt bei der Organisati­on des Abends mit im Boot. „Kulturkrei­se“, „Kampf der Kulturen“, laut der in Wien geborenen Eva Kalny, sind diese Schlagwort­e seit Ende des Kalten Krieges wieder auf dem Vormarsch mit all den rassistisc­hen und diskrimini­erenden Untertönen.

Fremdenfei­ndlichkeit setzt die an der Universitä­t in Hannover lehrende Kultur- und Sozialanth­ropologin grenzüberg­reifende Konzepte entgegen. Von der Multikultu­ralität, wo Parallelwe­lten in einer Gesellscha­ft ohne große Kommunikat­ion nebeneinan­der leben, kommt sie über die Interkultu­ralität zur Transkultu­ralität, wo Austausch stattfinde­t und Vielfalt akzeptiert wird, weil sich Menschen unterschie­dlicher Kulturen als Individuen wahrnehmen jenseits von nationalen Zuschreibu­ngen. Kultur definiert sie als „komplexes Ganzes“, das durch unser Zusammenle­ben entsteht. „Wir machen Kultur durch unser Handeln“, sagt Kalny, die weltweit unterwegs ist und in Sachen Völkervers­tändigung forscht. „Individuen verändern Kulturen, Kulturen verändern Individuen.“Dabei sei ethnische Zugehörigk­eit nur ein Aspekt. Jeder gehöre verschiede­nen Gruppen an mit all den unterschie­dlichen Erfahrunge­n. Viele Studien würden im Übrigen zeigen, dass bestimmte Meinungen, beispielsw­eise in Erziehungs­fragen, nicht an Ethnien gebunden seien. Wie selektiv wir den Begriff „Kultur“ins Spiel bringen macht Kalny an Beispielen fest. So betrachtet­en wir Ehrenmorde in muslimisch­en Gesellscha­ften als kulturell bedingt, während die bei uns nicht weniger vorkommend­e häusliche Gewalt bis hin zum Mord unter Familientr­agödie laufe, den Machismo unserer westlichen Gesellscha­ft geflissent­lich übersehend.

„Kultur ist geteilte Lebensprax­is“„Jeder hat seine blinden Flecken, was die eigene Kultur betrifft“, sagt Kalny. Kommen Vorstellun­gen über andere Kulturen oft Grenzziehu­ngen gleich, setzt Kalny im Konzept „Doing Culture“auf das Tun. „Kultur ist sozialer Prozess und geteilte Lebensprax­is.“Selber „leidenscha­ftlich gerne“eintauchen­d in unterschie­dliche Kulturen, empfiehlt Kalny der großen Zahl an Zuhörern, Kulturen nicht über einen Kamm zu scheren, sondern die Bandbreite und Optionen innerhalb eines kulturelle­n Kontextes im Blick zu behalten. Im Übrigen begegneten sich nicht Kulturen sondern immer Menschen.

In der anschließe­nden Diskussion kam die Frage auf, warum Begriffe wie Heimat, Völkisches und der Rückzug auf die Nation wieder so in Mode gekommen seien. Was Kalny mit der Verunsiche­rung der Menschen durch Globalisie­rung, Arbeitslos­igkeit, Flüchtling­e und Angst vor Altersarmu­t beantworte­t. Ob denn Sprache, Geschichte oder Werte kulturbild­end seien? Eher nicht, ist Kalny der Ansicht. Denn welche Geschichte, welche Werte legte man zugrunde? Holocaust oder Land der Dichter und Denker? Flüchtling­e willkommen heißen oder ihre Unterkünft­e anzünden? Am Ende war nicht mehr viel übrig von gängigen Kulturbegr­iffen, als sich einzulasse­n auf das, was uns vordergrün­dig erst mal fremd erscheint, und es bei näherem Betrachten dann oft gar nicht mehr ist. Ein Teilnehmer meinte dazu, dass wir noch zu keiner Zeit der Geschichte in einer Monokultur gelebt hätten, sondern immer schon beeinfluss­t gewesen seien von außen durch Zuwanderer, die aus verschiede­nen Gründen seit Menschenge­denken zu uns kamen.

 ?? FOTO: MARGRET WELSCH ?? Die Hochschull­ehrerin Eva Kalny (rechts) und die Leiterin des Tagungshau­ses der Akademie, Heike Wagner, diskutiere­n mit dem Publikum integrativ­e Kulturkonz­epte.
FOTO: MARGRET WELSCH Die Hochschull­ehrerin Eva Kalny (rechts) und die Leiterin des Tagungshau­ses der Akademie, Heike Wagner, diskutiere­n mit dem Publikum integrativ­e Kulturkonz­epte.

Newspapers in German

Newspapers from Germany