Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Kultur ist flexibel
Vortrag an der Akademie der Diözese: Anthropologin Eva Kalny von der Universität Hannover fächert Kulturverständnis auf
WEINGARTEN - In Zeiten von Migration ist „Kultur“in aller Munde. Nicht selten, um das Eigene gegen das vermeintlich Fremde abzugrenzen. In ihrem Vortrag „(Miss-)Verständnis von Kultur“lotete Hochschullehrerin Eva Kalny am Mittwoch in der Akademie Kulturdifferenzen und die Rolle des Einzelnen darin aus und zeigte Konzepte für gelingende Integration. Statt mit Stereotypen andere auszugrenzen, setzt sie auf Kultur als geteilte Lebenspraxis.
Weingarten in seinem Bemühen um Integration von Flüchtlingen zu unterstützen und wissenschaftlich zu begleiten, das sieht Heike Wagner, Leiterin der Außenstelle der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, als eine Aufgabe ihrer Bildungseinrichtung. So war denn die Stadt bei der Organisation des Abends mit im Boot. „Kulturkreise“, „Kampf der Kulturen“, laut der in Wien geborenen Eva Kalny, sind diese Schlagworte seit Ende des Kalten Krieges wieder auf dem Vormarsch mit all den rassistischen und diskriminierenden Untertönen.
Fremdenfeindlichkeit setzt die an der Universität in Hannover lehrende Kultur- und Sozialanthropologin grenzübergreifende Konzepte entgegen. Von der Multikulturalität, wo Parallelwelten in einer Gesellschaft ohne große Kommunikation nebeneinander leben, kommt sie über die Interkulturalität zur Transkulturalität, wo Austausch stattfindet und Vielfalt akzeptiert wird, weil sich Menschen unterschiedlicher Kulturen als Individuen wahrnehmen jenseits von nationalen Zuschreibungen. Kultur definiert sie als „komplexes Ganzes“, das durch unser Zusammenleben entsteht. „Wir machen Kultur durch unser Handeln“, sagt Kalny, die weltweit unterwegs ist und in Sachen Völkerverständigung forscht. „Individuen verändern Kulturen, Kulturen verändern Individuen.“Dabei sei ethnische Zugehörigkeit nur ein Aspekt. Jeder gehöre verschiedenen Gruppen an mit all den unterschiedlichen Erfahrungen. Viele Studien würden im Übrigen zeigen, dass bestimmte Meinungen, beispielsweise in Erziehungsfragen, nicht an Ethnien gebunden seien. Wie selektiv wir den Begriff „Kultur“ins Spiel bringen macht Kalny an Beispielen fest. So betrachteten wir Ehrenmorde in muslimischen Gesellschaften als kulturell bedingt, während die bei uns nicht weniger vorkommende häusliche Gewalt bis hin zum Mord unter Familientragödie laufe, den Machismo unserer westlichen Gesellschaft geflissentlich übersehend.
„Kultur ist geteilte Lebenspraxis“„Jeder hat seine blinden Flecken, was die eigene Kultur betrifft“, sagt Kalny. Kommen Vorstellungen über andere Kulturen oft Grenzziehungen gleich, setzt Kalny im Konzept „Doing Culture“auf das Tun. „Kultur ist sozialer Prozess und geteilte Lebenspraxis.“Selber „leidenschaftlich gerne“eintauchend in unterschiedliche Kulturen, empfiehlt Kalny der großen Zahl an Zuhörern, Kulturen nicht über einen Kamm zu scheren, sondern die Bandbreite und Optionen innerhalb eines kulturellen Kontextes im Blick zu behalten. Im Übrigen begegneten sich nicht Kulturen sondern immer Menschen.
In der anschließenden Diskussion kam die Frage auf, warum Begriffe wie Heimat, Völkisches und der Rückzug auf die Nation wieder so in Mode gekommen seien. Was Kalny mit der Verunsicherung der Menschen durch Globalisierung, Arbeitslosigkeit, Flüchtlinge und Angst vor Altersarmut beantwortet. Ob denn Sprache, Geschichte oder Werte kulturbildend seien? Eher nicht, ist Kalny der Ansicht. Denn welche Geschichte, welche Werte legte man zugrunde? Holocaust oder Land der Dichter und Denker? Flüchtlinge willkommen heißen oder ihre Unterkünfte anzünden? Am Ende war nicht mehr viel übrig von gängigen Kulturbegriffen, als sich einzulassen auf das, was uns vordergründig erst mal fremd erscheint, und es bei näherem Betrachten dann oft gar nicht mehr ist. Ein Teilnehmer meinte dazu, dass wir noch zu keiner Zeit der Geschichte in einer Monokultur gelebt hätten, sondern immer schon beeinflusst gewesen seien von außen durch Zuwanderer, die aus verschiedenen Gründen seit Menschengedenken zu uns kamen.