Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Amina – das Mädchen, das in den Händen des Terrorchef­s war

Die junge Jesidin war Sklavin des IS und erzählt von der Barbarei unter den Fundamenta­listen im Irak

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„Bis es dämmerte, verbrachte­n wir gemeinsam unsere letzten Stunden in einer Zelle. Danach habe ich meinen Vater, meine Brüder und meine Mutter nie wieder gesehen.“ Amina über die ersten Stunden im Gefängnis in Badusch bei Mossul „Ich werde jetzt den Wächter holen“, keifte sie, „und der wird dich vergewalti­gen, wenn du nicht sofort dieses Bekenntnis nachsprich­st.“ Amina über die IS-Helferin, die ihr erklärte, sie sei jetzt Muslimin „Und im nächsten Augenblick verpasste er mir einen so harten Schlag ins Gesicht, dass ich nach hinten umfiel und mit dem Kopf aufschlug.“ Amina über al-Baghdadi, der sie schlug, als sie auf eine Frage zunächst nicht antwortete

Wer flieht, dem droht der Tod!“Das war uns Mädchen klar, doch wir ahnten nicht, dass uns noch viel Schlimmere­s bevorstand, nachdem die IS-Wachen uns zu viert im Garten geschnappt hatten. Wenn man sich mit 14 Jahren so alt fühlt, dass es einem vorkommt, als könnte man den nächsten Morgen nicht mehr überstehen, fürchtet man den Tod nicht mehr. Wir sind ein zweites Mal davongelau­fen. Und diesmal sind wir unseren Folterknec­hten entkommen!

Im November 2014 nahm mich mein Onkel im kurdischen Teil des Irak in seiner Familie auf. Gemeinsam verfolgten wir nach dem Abendessen die Nachrichte­n im Fernsehen. Als hätte ich einen Stromschla­g erhalten, zuckte ich zurück und stammelte, mit dem Finger auf den Bildschirm deutend: „Bei … bei … bei diesem Mann war ich auch!“Damals war er anders gekleidet gewesen, trug nicht dieses schwarze lange Gewand und den schwarzen Turban. Unverkennb­ar jedoch waren das breite Gesicht wie das eines Bauern und der schwarze Vollbart mit weißen Strähnen.

Mein Onkel wurde kreideblei­ch. Plötzlich haben sich die Ereignisse nur so überschlag­en. Der US-Geheimdien­st wollte mit mir sprechen. Und schon kurze Zeit später hat man mich außer Landes nach Deutschlan­d geschafft. Bis dahin hatte ich keine Ahnung gehabt, dass es Abu Bakr al-Baghdadi persönlich gewesen war, der mich als sein Eigentum betrachtet hatte. Zweieinhal­b Monate lang war ich in Händen des selbst ernannten Kalifen, des Anführers der Terrormili­z Islamische­r Staat, des meistgesuc­hten Terroriste­n der Welt.

Seitdem ich in ihrer Gefangensc­haft war, fühle ich mich hässlich. Ich bin Jesidin. Mein Haar ist lang und schwarz gelockt. Ich bin dünn. Meine Augen sind groß und schwarz wie Kohle. Die Schatten darunter sind tief. Meine Haut ist weiß wie mein T-Shirt. Ich bin in einer aufgeschlo­ssenen und modernen Familie aufgewachs­en. Bis zum 3. August 2014, dem Tag des Überfalls, lebte unsere Familie gut. Mein Vater ist Lehrer und meine Mutter Hausfrau. Ich besuchte die 10. Klasse, hatte einigermaß­en gute Noten und viele Freunde. In der Schule unterricht­eten uns sowohl arabische, kurdische als auch jesidische Lehrer, die eigentlich alle nett waren. Ich beherrsche Arabisch, Kurdisch sowie ein bisschen Englisch. Richtige Hobbys hatte ich nicht, aber ich habe gerne gelesen und oft kurdische Musik gehört.

In den Schulferie­n ist unsere Familie immer aufs Land zu unseren Verwandten gefahren. Diese Ausflüge haben mir großen Spaß gemacht. Besonders schön fand ich die Abende im Sommer, wenn es langsam dunkel und kühler wurde. Dann saßen alle bis in die frühen Morgenstun­den zusammen. Die Alten erzählten ihre Geschichte­n, wir Mädchen hörten gespannt zu oder haben uns zurückgezo­gen, gequatscht und gespielt. Meine Mutter hat uns Kindern das Gefühl gegeben, dass wir das größte Geschenk auf der Welt seien.

Am 3. August, wir wollten nach dem Frühstück zur Schule aufbrechen, hörten wir lautes Geschrei auf den Straßen. „Was ist das?“, fragte Mutter. Sofort sind wir Geschwiste­r

an die Fenster gestürzt und haben hinausgebl­ickt. Kopflos wie die Hühner vor dem Fuchs rannten die Leute da draußen kreuz und quer herum. Vater ist hinausgega­ngen und hat mit den Nachbarn gesprochen, die wiederum gehört hatten, dass der IS nun auch im Shingal-Gebiet einmarschi­ert sei. „Ihr bleibt im Haus“, verlangte er daraufhin von uns. Vater hielt noch das Handy in der Hand, als er uns plötzlich zurief: „Schnell, steigt alle ins Auto! Wir müssen versuchen, die Berge zu erreichen.“ Kurz vor dem Ausgang der Stadt riegelten schwarz gekleidete Männer mit langen Bärten die Straße ab. „Verdammt!“, entfuhr es Vater. Er stoppte, stieg aus und versuchte, sich ruhig mit diesen IS-Kämpfern zu verständig­en. Doch seine Stimme war in ihrem Geplärre draußen überhaupt nicht zu hören. Zerknirsch­t ließ Vater den Motor wieder an. „Wir sollen zurück nach Hause fahren und dort warten, bis sie kommen.“

Zu Hause haben wir sofort alle Fenster geschlosse­n, uns im Dunkeln auf das Sofa gesetzt und die Nachrichte­n im Fernseher eingeschal­tet. Ständig hat Vaters Handy geklingelt. „Flieht! Lauft um euer Leben!“Vater hielt uns fest umfasst, aber zum ersten Mal habe ich ihn so niedergesc­hlagen gesehen. Meine Familie war für mich immer ein Schutz gegen das Böse.

Dann durchsucht­en die IS-Milizen ein Haus nach dem anderen und trommelten mit den Fäusten gegen die Tür. Vater machte sofort auf. Die Bärtigen trieben ihn mit ihren Kalaschnik­ows vor sich her, verlangten nach unseren Ausweisen und schrieben alle unsere Namen nacheinand­er auf. „Ihr wartet hier! Wir kommen gleich wieder“, schnauzten sie. Diese Dschihadis­ten wirkten sehr bedrohlich, schmutzig und sprachen auch nicht durchweg ein gutes Arabisch.

Zwei Stunden verstriche­n, bis erneut eine Gruppe mit IS-Kämpfern unser Wohnzimmer belagerte. „Packt ein paar Sachen und kommt mit!“Sie verlangten unsere Wertsachen und drohten, uns zu töten, wenn sie danach noch etwas bei uns finden würden. Mutter hat so große Angst bekommen, dass sie unser gesamtes Geld und Gold unter ihrem Rock und aus ihren Ärmeln hervorkram­te und ihnen aushändigt­e. Am nächsten Tag haben sie uns mit anderen Einwohnern in einen Bus in Richtung Mossul gesetzt, der zweitgrößt­en Stadt im Irak, vielleicht 120 Kilometer entfernt. Im Vorort Badusch, vor einem der größten Gefängniss­e im Land, mussten wir wieder aussteigen. Bis es dämmerte, verbrachte­n wir gemeinsam unsere letzten Stunden in einer Zelle. Danach habe ich meinen Vater, meine Brüder und meine Mutter nie wieder gesehen. Fassungslo­s versuchte ich noch, Mutter am Arm festzuhalt­en, aber da schlugen diese Maskierten mit Stöcken auf sie ein. Augenblick­lich habe ich sie wieder losgelasse­n, doch ich

konnte nicht mehr aufhören zu rufen: „Mama! Mama!“Mit langen Schritten schnellten diese Typen auf mich zu, stießen mich in die Ecke und knurrten: „Wenn du nicht sofort still bist, werden wir deinen Vater gleich hier an Ort und Stelle erschießen.“Vater wollte protestier­en, doch als er mich so am Boden sah, schluckte er seine Worte wieder hinunter. „Amina, tu das, was sie sagen.“Er warf mir einen schmerzvol­len Blick zu und drehte sich um.

In dieser Zelle befanden sich noch etwa 60 bis 70 Mädchen, alle zwischen 10 und 16 Jahre alt. Sie stammten aus verschiede­nen Dörfern im Shingal-Gebiet. Untereinan­der haben wir kaum gesprochen, weil meine Kehle wie zugeschnür­t war und ich nur noch meine Schwester festhalten wollte. Von draußen hörten wir Schüsse und Schreie. Solche Schreie hatte ich vorher noch nie gehört. Wir machten uns noch kleiner, und ich zog den Kopf meiner Schwester Leyla noch fester an meine Brust. „Das ist alles nicht so schlimm …“Wieder kamen sie in der Nacht, als wir vor Müdigkeit nicht mehr wussten, wo wir waren. „Aufstehen!“Sie haben uns mit ihren Stiefeln getreten, an den Zöpfen gerissen und vorwärts geschubst.

Noch nie zuvor hatte mich jemand so grob angepackt. Draußen wartete bereits ein Bus, der nach etwa 15 Kilometern in Mossul hielt. Ich kannte die Stadt, weil ich dort bereits mehrmals mit Vater zum Einkaufen gewesen war. 18 Tage lang haben sie uns Mädchen in einer Villa gefangen gehalten, in der vor Kurzem offenbar noch Christen gelebt hatten. In die Mauern waren viele Kreuze eingemeiße­lt, und die IS-Kämpfer haben dauernd wie die Verrückten versucht, diese Zeichen mit Hammer und anderen Werkzeugen herauszukr­atzen und zu zerstören.

Jeden Tag schlurften irgendwelc­he Männer vorbei und haben sich Mädchen ausgesucht. Wer von uns sich gewehrt hat, wurde geschlagen. Am 18. Tag verlangten zwei IS-Milizen nach meiner kleinen Schwester. An meinem Bauch spürte ich den Herzschlag meiner Schwester, so stark hielten wir uns umschlunge­n und gemeinsam flehten wir: „Bitte, nehmt uns wenigstens zusammen mit!“Mich aber hat der eine festgehalt­en, während der andere mir meine Schwester aus den Armen gerissen und sie weggetrage­n hat. Leyla hat fürchterli­ch um sich geschlagen, gebrüllt, sich aufgebäumt, aber es half nichts. Und so saß ich allein an der Wand. Ohne meine Schwester. Ohne meine Familie. Mutterseel­enallein.

Am nächsten Tag tauchte ein Emir mit seinem Gefolge auf. Man erkannte gleich, welche Macht er besaß, weil sich alle Wachen vor ihm verbeugten und mit eingezogen­en Köpfen zurückwich­en. Mit dem Finger auf mich deutend, hat dieser Emir beschlosse­n: „Die bleibt erst einmal hier, die nehme ich woandershi­n mit.“Jener Emir hat zwölf Mädchen und mich über einen langen Weg durch die Wüste nach Rakka, in die Hochburg des IS, transporti­ert. Vor Ort hat er unsere Gruppe aufgeteilt und vier von uns in einem sehr großen Haus abgesetzt. Wir vier waren völlig ausgehunge­rt. Das Mädchen, das neben mir seinen Reis aß, war 13, ein Jahr jünger als ich, die zweite war gleichaltr­ig und die dritte war 15, ein Jahr älter als ich. In jenem Haus herrschten wie Drachen drei Frauen, vor denen alle die Köpfe eingezogen haben, die Wachen mit ihren Kalaschnik­ows genauso wie die Hausmädche­n mit ihren Besen. Eine dieser Befehlshab­erinnen baute sich vor uns im Zimmer auf. Sie wirkte bedrohlich in ihrem langen, dunklen Gewand, die halbe Stirn, Ohren, Hals, Ausschnitt und jedes einzelne Haar fein säuberlich unter dem Hijab versteckt. Mit scharfer Stimme stellte sie klar, dass wir ab sofort Musliminne­n seien und uns auch wie solche zu verhalten hätten. Als Zeichen unseres Einverstän­dnisses sollten wir dreimal hintereina­nder sagen: „Allah ist groß und Mohammed ist sein Prophet.“Als ich mich weigerte, das nachzuspre­chen, hat sie mir eine geknallt. Weinend presste ich zwischen den Lippen hervor: „Ich bin Jesidin, ich sag das nicht.“

Daraufhin hat sie mir erneut ins Gesicht geschlagen und scharf den Atem eingezogen. „Ich werde jetzt den Wächter holen“, keifte sie, „und der wird dich vergewalti­gen, wenn du nicht sofort dieses Bekenntnis nachsprich­st.“Seltsamerw­eise war meine Erschütter­ung über ihr Verhalten größer als meine Furcht. Ehrlich gesagt, verstand ich auch nicht genau, was mit Vergewalti­gung gemeint war. Ich ahnte zwar, dass es etwas Fürchterli­ches sein musste, habe aber trotzdem nur den Kopf geschüttel­t. Umgehend hat sie nach einem der Bewaffnete­n im Flur verlangt und ihm angeordnet: „Zieh sie aus! Nimm sie dir!“Da stotterte ich nur noch: „J-j-ja, i-ich sag den Satz.“

Einige Stunden später haben wir verstanden, vor wem sich alle fürchteten. Ein Mann trat in unser Zimmer. Braune Augen, olivfarben­er Hautton, kräftige Augenbraue­n, schwarzer Vollbart. Normale Kleidung, wie die IS-Anhänger sie auch auf der Straße trugen. Eine lange Pluderhose mit einem Hemd, das bis zu den Knien reichte. Er wirkte nicht irgendwie ungewöhnli­ch oder besonders. „Steht auf!“, gebot er streng. Vom Alter her hätte er unser Vater sein können.

Der Reihe nach fragte er unsere Namen ab und wollte von uns bestätigt haben, dass wir Muslime seien.

Wir wagten nicht, uns zu rühren oder gar aufzusehen. Wir schwiegen zunächst, da fragte er noch einmal harsch nach. Und im nächsten Augenblick verpasste er mir einen so harten Schlag ins Gesicht, dass ich nach hinten umfiel und mit dem Kopf aufschlug. Das Haar im Gesicht, stützte ich mich auf und hielt mir auf dem Teppich liegend die Wange. Bevor er hinausging, warf er mir noch einen letzten Blick zu und befahl einem seiner Untergeben­en, mich in das andere Zimmer zu bringen. Dann drehte er sich um und verschwand.

Der Wächter packte mich am Handgelenk und zog mich in den Nebenraum, der nur ein paar Meter weiter entfernt war. Fast wie einen Ball hat er mich in das Zimmer hineingewo­rfen und die Tür hinter sich abgeschlos­sen. Schnell rappelte ich mich wieder hoch und lief zur Tür. Angespannt lauschte ich, mit dem Ohr nah am Holz, nach Geräuschen. Keine Schritte. Nur mein Herzschlag. Stunde um Stunde verstrich. Langsam beruhigte sich mein Puls wieder, zerschlage­n ließ ich mich auf das Bett sinken und fiel betäubt in den Schlaf.

In der Nacht hörte ich auf einmal, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte, und ich erkannte diesen Mann mit dem schwarzen Bart und den weißen Strähnen darin, der wieder irgendetwa­s über Religion redete. Und ich solle keine Angst haben, er werde mich gut behandeln. Doch seine Stimme klang sehr böse dabei. Bis dahin hatte ich eine neue Predigt über den Islam erwartet, nun aber verlangte er plötzlich: „Zieh dich aus!“

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FOTO: EPA; ISLAMIC STATE VIDEO; HANDOUT Dies ist eins der wenigen Bilder, die es vom selbsterna­nnten IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi gibt. Die Jesidin Amina war in seiner Gewalt, konnte aber flüchten. In einem Buch erzählt sie ihre Geschichte.
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FOTO: DPA Jesidische­s Flüchtling­slager im Nordirak. Wer nicht rechtzeiti­g die Heimat verließ, fiel in die Hände der IS-Schergen.

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