Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Künstlerdorf zwischen Moor und Torf
Der Kinofilm „Paula“porträtiert die Malerin Modersohn-Becker – In Worpswede war sie zu Hause – und sie ist es immer noch
Wenn Sommer war, stapfte Paula gern ganz in Weiß morgens von ihrer Wohnung zum Atelier im Brünjeshof. Der Torfboden federte, Bienen summten im Heidekraut, und über ihr spannte sich jener weite Himmel, den die Malerkollegen immer wieder festhielten, bei jedem Wetter und mit jeder veränderten Wolkenformation. Zehn Minuten dauerte der Weg, wenn sie sich sputete, und meist hatte sie es eilig, an ihre geliebte Staffelei zu kommen. Denn hier setzte sie suchend und doch entschlossen um, was sie bei ihren Aufenthalten in Paris an künstlerisch Neuem aufgesogen hatte. Hier entstanden jene erdenschweren Bilder, in denen selbst ihr Mann Otto zunächst nur „Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben und Münder wie Wunden“ausmachen konnte.
Die Heide gibt es noch, ein letzter, sorgfältig gepflegter Streifen im Ort, Marcusheide genannt. In dem Haus, in dem Paula mit ihrem Mann sechs Jahre lang lebte und am 20. November 1907, knapp drei Wochen nach der Geburt ihrer Tochter, starb, hängen sepiafarbene Fotos und ein Leuchter mit goldenem Engel, den sie in Paris gekauft hatte. Und im ehemaligen Atelier, dessen Wände in Türkis und Petrol gestrichen sind, können heute Besucher übernachten.
Märchenhafte Entwicklung
700 Einwohner hatte Worpswede nordöstlich von Bremen 1889, als die Kunststudenten Fritz Mackensen, Hans am Ende und Otto Modersohn sich dort ansiedelten. Sandwege verbanden die reetgedeckten Katen, Heuwagen rumpelten darüber, auf der träge dahintreibenden Hamme treidelten Bauern Moorkähne mit braunen Segeln. Und niemand ahnte, was sich aus diesem eher ärmlichen, aber fürs Auge hochromantischen Flecken im Lauf eines halben Jahrhunderts entwickeln würde: ein Zentrum künstlerischer Inspiration, das mit Paris, Berlin und Moskau vernetzt war, ein Labor sozialer Experimente, ein Pilgerort für Tausende schließlich – ein im Rückblick kaum noch glaubhaftes Märchen. Und dass ausgerechnet das als Künstlerin wenig geschätzte „Malweib“Paula Modersohn-Becker mit ihren 750 hinterlassenen Gemälden zum bekanntesten Gesicht dieser Institution werden würde – bei dem Gedanken hätte jeder laut gelacht.
Heute hat Worpswede fast zehnmal so viel Einwohner. Es präsentiert sich als eine Ansiedlung mit jeder Menge Grün, aber ohne richtigen Mittelpunkt und eigenes Gesicht. Entlang der mit roten Klinkern gepflasterten Bergstraße reihen sich Cafés und herrschaftliche Villen, kleine Galerien und Läden. Ein 30 Meter hoher Mammutbaum von 1850 wird als Naturdenkmal präsentiert, in der „Kleinsten Galerie“, einer Art Telefonzelle aus Holz, sollen Passanten vor dem Bild einer Moorlandschaft das Sehen üben und zur inneren Ruhe finden. Und am zentralen Parkplatz zeugen gemauerte Schlangen und Schlangeneier, die mit funkelnden Mosaiksteinen besetzt sind, von jüngsten Versuchen, Kindern Kunst näherzubringen.
Längst ist Worpswede kein Dorf mehr, möchte aber keinesfalls ein Städtchen sein: Das Etikett „Künstlerdorf“ist nun mal Gold wert. 140 Künstler und Kunsthandwerker leben und arbeiten heute hier – und bei der Jam Session am Dienstag im Bistro „Sonntag“rätselt man fröhlich, welche der Rotgelockten, Tiefgefurchten, Buntgewandeten oder leicht Verstörten denn wohl dazugehören und wer nur zum Sehen da ist.
So weit, so wenig aufregend. Wäre da nicht diese Handvoll verstreuter, ungewöhnlicher Gebäude, die jeweils für ganz unterschiedliche Charaktere und Epochen stehen und das einstige Moordorf zu einem Ort von Weltgeltung machen.
Fritz Mackensen war sozusagen der Gründervater. In der ehemaligen Schule neben der Kirche hat er zunächst gewohnt. Begraben ist er auf dem Friedhof gleich darüber, ebenso wie Paula und Otto Modersohn, Hans am Ende, Fritz Uphoff und viele andere bekannte und weniger bekannte Nachfolgerinnen und Nachfolger. An der Mauer der Zions-Kirche hängt eine originalgroße Reproduktion seines frühen Bildes „Gottesdienst im Moor“. In den abgearbeiteten Gesichtern der Moorbauern zeigt sich bereits der Hang des Malers zum düsteren Pathos, der ihn später konsequent zu den Nazis und ihrer Auffassung von Nordischer Kunst führte. An den Gesichtern der Einheimischen wie auch am Moor aber arbeiteten sich fast alle frühen Worpsweder Künstler ab.
Das Teufelsmoor, ursprünglich 500 Quadratkilometer groß, reichte damals bis ans Dorf. Heute erstrecken sich dort weite Rüben- und Maisäcker, zu den letzten gut erhaltenen Flecken der Ursprungslandschaft fährt man inzwischen acht, neun Kilometer weit. Aber wer dann zwischen den sumpfigen Niederungen und den spiegelnden Wasserflecken hindurchwandert, versteht auf Anhieb, woher Paula ihre Farben nahm: Die tiefschwarze Erde, das seidige Weiß der Birkenstämme, die Blätter in herbstlichem Rostrot und schmutzigem Gold, grundiert vom wuchtigen Braun des trocknenden Torfes – jeder Blick hier draußen ist eine eigene Komposition der Natur.
Auch Heinrich Vogeler liebte das Moor und die Birken über alles. Er, der 1893 zur Kolonie gestoßen war, ging einen anderen Weg als der Herrenmensch Mackensen oder die Brüder Uphoff, die eifrigsten Nazis unter Worpswedes Malern. Sein Barkenhoff, eine Bauernkate, die er zu einer imposanten, weißen Villa mit klassizistischem Giebel umgebaut hatte, wurde 2007 umfassend restauriert. Eine Sammlung von ihm entworfener Vasen, Bestecke, Möbel und Bilder zeigt die ganze Breite seines Talents. Und auch wer sich von all den Ranken, Blüten und Vögeln des Jugendstils eher eingeengt als beflügelt fühlt, staunt über die Formsicherheit und Arbeitsdisziplin des Künstlers.
Zehn Jahre lang war Vogeler der wirtschaftliche Motor des Dorfes und wurde mit Aufträgen geradezu überschüttet. Zunehmend aber zweifelte er am Sinn und Inhalt seines Berufs. Nach dem Ersten Weltkrieg wandte er sich dem Kommunismus zu und verwandelte seinen Hof in eine Kommune. Fotos zeigen, wie die Diele mit revolutionären Fresken ausgemalt war, die später alle zerstört wurden. 1931 siedelte er in die Sowjetunion über, wo er 1942 in Kasachstan auch starb.
Schon lange davor hatte seine Frau Martha sich von ihm getrennt und 1920 ihr „Haus am Schluh“als neues Zuhause aufgebaut. Hier hängen ein Original und zwei Fotos seiner „Komplexbilder“, die die Errungenschaften der Sowjetunion feierten und später fast alle zerstört wurden. Sein Sohn Jan hatte sie aus Moskau mitgebracht, als er nach der Wende in den Westen zog – versteckt in einer Datscha hatten sie die Zeiten überdauert. Das ist das Großartige an Worpswede: Jedes Bild zieht ein anderes nach sich, jede Geschichte öffnet die Tür zu einer neuen.
Im „Café Verrückt“Vogelers bekanntestes Gemälde „Sommerabend“hängt wie ein Altarbild in der „Großen Kunstschau“im Ort. Bernhard Hoetger hatte diesen Kuppelbau am Berg geschaffen, der Mann, der sozusagen mit Backsteinen malte und seinen Hausfassaden Rundungen und Schrägen, Bäuche und Falten verpasste. Sein „Kaffee Worpswede“, gleich nebenan, verzichtet auf rechte Winkel und verbindet den Giebel eines Wikingerhauses mit einem asiatischen Pagodendach und Fenstern, die an japanische Schriftzeichen erinnern – „Café Verrückt“nannten die Worpsweder das Gebäude von Anfang an.
Der „Sommerabend“wurde 1905 vollendet und zeigt eine Gesellschaft gut gekleideter Menschen auf der geschwungenen Treppe und der Terrasse des Barkenhoff – ein Treffen, wie es viele gegeben hat. Zwischen rankenden Rosen sitzen die Künstler zusammen, musizieren, blicken elegisch in die Ferne – Rainer Maria Rilke, der hier gern im Russenkittel eigene Verse vortrug, ist bereits nicht mehr dabei. Die Frauen und Männer wirken gelangweilt, angeödet voneinander fast. Es ist ein Abschiedsbild. Die inspirierten Gründerzeiten sind vorbei. Aber die wilden und unseligen Jahre, die sollten erst kommen.