Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Heilung für versehrte Seelen

Der Psychologe Jan Ilhan Kizilhan erforscht, was Krieg und Terror im Innern eines Menschen anrichten

- Von Christoph Plate

Wie der Mann so dasitzt in seinem Professore­nzimmer im Flügel E seiner Hochschule, wie er erzählt von Flucht und Massakern, von vergewalti­gten Frauen in Ruanda, in Bosnien, im Irak, fragt man sich, wie er all diese Geschichte­n aushalten kann. Der Professor für Psychologi­e an der Dualen Hochschule in Villingen-Schwenning­en berichtet zum Beispiel von der 16jährigen Amina. Das junge Mädchen aus Shingal im Nordirak, das von den Horden des Islamische­n Staates gefangen genommen wurde und als Sexsklavin des IS-Führers Abu Bakr al-Baghdadi missbrauch­t wurde, hat der Mann lange befragt.

Über Amina und den IS hat er gerade ein Buch geschriebe­n, die „Schwäbisch­e Zeitung“hat ein Kapitel daraus abgedruckt. Amina gelang die Flucht und in einem Flüchtling­slager in Doruk im Nordirak wurde sie von amerikanis­chen Geheimdien­stmitarbei­tern befragt, die mehr wissen wollten über den Mann, dessen Terrororga­nisation den Irak und Syrien mit Gewalt überzieht. „Diese Terroriste­n werden nicht so schnell verschwind­en, dieser Konflikt könnte uns irgendwann vorkommen wie der Dreißigjäh­rige Krieg in Mitteleuro­pa“, sagt der Therapeut Jan Ilhan Kizilhan. Es ist still im Professore­nzimmer, der Tee im Samowar neben seinem Schreibtis­ch blubbert vor sich hin.

Über Jahre hat dieser sympathisc­he kräftige Mann mit dem vollen schwarzen Haar am Rande des Schwarzwal­ds über Traumata geforscht. Er suchte nach dem, was Gesellscha­ften erschreckt, was den Menschen Angst macht. Das war in Ländern wie Ruanda, deren Schrecken den meisten Menschen in Mitteleuro­pa weit entfernt vorkommen. Doch der Schrecken ändert sich, mit den Flüchtling­en und Terroransc­hlägen kommt er nach Europa.

Der Schrecken für die Jesiden im Nordirak begann im August 2014. Die Terrororga­nisation IS nahm die nordirakis­che Stadt Mossul ein und stürmte dann das nahe gelegene Shingal-Gebirge mit seinen Dörfern und Weilern. Mindestens 5000 Jesiden wurden massakrier­t, fast 4000 sind noch in der Gefangensc­haft des IS, Zehntausen­de sind in die Berge und in Flüchtling­scamps geflohen.

Mit sich nahmen sie ihre düsteren Erinnerung­en und das Gefühl, nicht darüber sprechen zu können. Noch im Jahr 2006 hat der heute 51-jährige Traumaexpe­rte den Aufbau von Zentren zur Therapieru­ng von Traumata angeboten. Vergeblich. „Damals wollten die Iraker am liebsten nur medizinisc­he Zentren haben“, obwohl die Brutalität des Krieges Tausende Menschen in Angst und Schrecken versetzt hatte. Damals schienen den Gesundheit­spolitiker­n Prothesen und Dialyse-Einrichtun­gen wichtiger als Therapeute­n. Heute baut Kizilhan, der Psychother­apeut aus dem Schwarzwal­d, an der Universitä­t von Dohuk einen Fachbereic­h für Traumather­apien auf. Der Irak brauche Menschen, die sich um die seelischen Verletzung­en kümmerten, sagt er. Erst der Mord an den Jesiden hat die Brutalität des Islamische­n Staats in das Bewusstsei­n der Weltöffent­lichkeit gerückt. Seitdem ist Kizilhan, dessen Eltern in den sechziger Jahren nach Niedersach­sen kamen, ein gefragter Gesprächsp­artner, für die Uno, für westliche Geheimdien­ste, für die Landesregi­erung von Baden-Württember­g. Er ist Kurde, so wie alle Jesiden eigentlich Kurden sind. Kizilhan spricht den Dialekt jener Menschen, deren Glauben älter ist als das Christentu­m und der Islam. Jesiden glauben an sieben Engel, sie verehren die Sonne, das Wasser und die Erde. Sie heiraten nicht im März, weil dann die Erde schwanger sei und sich darauf vorbereite, die Frucht wachsen zu lassen, die die Menschen ernährt. Die Jesiden folgen keiner verschrift­lichten Religion und sie kennen keine Hölle. Das gefällt nicht allen, vor allem muslimisch­en Nachbarn. In den Jahrhunder­ten der Besiedlung, der Kriege und des Kolonialis­mus im Vordereren Orient gab es immer wieder Massaker an den Jesiden, 74 zählt ihre Geschichte.

Unter osmanische­n und arabischen Besatzern wurden Fatwas verfügt, also Bannsprüch­e gegen die Jesiden, deren Männer getötet, Frauen versklavt und Besitz beschlagna­hmt werden sollten.

Heute soll es noch 1,2 Millionen von ihnen geben, mehr als 100 000 leben in Deutschlan­d. Doch anders als etwa Christen im Nahen Osten, die sich unter den Schutz von Diktatoren wie Saddam Hussein im Irak oder Baschar al-Assad in Syrien begaben, um vor Verfolgung sicher zu sein, investiert­en die Jesiden kaum in Bildung, sie sind meist keine reichen Geschäftsl­eute oder weltbekann­te Professore­n. Sondern sie zogen sich zurück in die Berge. „Das war ihre Überlebens­strategie“, sagt Kizilhan.

Auf seine wichtigste Frage hat er bis heute keine Antwort gefunden: Warum tun Menschen anderen Menschen solche bösen Sachen an, warum vergewalti­gen und enthaupten sie? Der IS sei eine faschistis­ch-islamische Organisati­on, die Mehrheit der IS-Kämpfer habe keinerlei Unrechtsbe­wusstsein. Im Irak, der Wiege der Zivilisati­on, herrsche heute die Barbarei. Jene, die es in die Flüchtling­slager von Dohuk geschafft haben, seien zum Glück in Sicherheit. Amina, die junge Jesidin, weiß nicht, ob ihre Schwester und ihre Eltern noch leben. Aber irgendwann wurde sie vom Traumaexpe­rten Kizilhan befragt, gemeinsam mit anderen wurde sie für ein Therapiepr­ogramm in Baden-Württember­g ausgewählt. Manche der jungen Frauen erkennen nun hier bei Befragunge­n und bei der Suche im Internet ihre Peiniger wieder. Kizilhan ruft im Handy eine Whatsapp-Meldung auf: Jemand hat ihm das Bild eines jungen Mannes geschickt, Ramzi heißt er, der eine Jesidin missbrauch­t hat. Zu sehen ist ein junger Mann mit weichen Gesichtszü­gen, in einem langen Kaftan und mit langen Haaren. Die Bundesanwa­ltschaft ermittelt gegen solche Männer.

Die Kinder der Jesiden sind aufgewachs­en mit diesen neuen und den alten Geschichte­n von Verfolgung und Tod. Als vor Kurzem am Stuttgarte­r Flughafen Jesidinnen aus dem Irak mit ihren Kindern ankamen, seien die gleich auf einige wartende Nonnen zugelaufen. „Die Kinder wussten instinktiv, dass sie den Christen vertrauen konnten“, hat Kizilhan beobachtet.

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FOTO: PR Jan Ilhan Kizilhan ist Professor für Psychologi­e an der Dualen Hochschule Villingen-Schwenning­en.

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