Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Heilung für versehrte Seelen
Der Psychologe Jan Ilhan Kizilhan erforscht, was Krieg und Terror im Innern eines Menschen anrichten
Wie der Mann so dasitzt in seinem Professorenzimmer im Flügel E seiner Hochschule, wie er erzählt von Flucht und Massakern, von vergewaltigten Frauen in Ruanda, in Bosnien, im Irak, fragt man sich, wie er all diese Geschichten aushalten kann. Der Professor für Psychologie an der Dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen berichtet zum Beispiel von der 16jährigen Amina. Das junge Mädchen aus Shingal im Nordirak, das von den Horden des Islamischen Staates gefangen genommen wurde und als Sexsklavin des IS-Führers Abu Bakr al-Baghdadi missbraucht wurde, hat der Mann lange befragt.
Über Amina und den IS hat er gerade ein Buch geschrieben, die „Schwäbische Zeitung“hat ein Kapitel daraus abgedruckt. Amina gelang die Flucht und in einem Flüchtlingslager in Doruk im Nordirak wurde sie von amerikanischen Geheimdienstmitarbeitern befragt, die mehr wissen wollten über den Mann, dessen Terrororganisation den Irak und Syrien mit Gewalt überzieht. „Diese Terroristen werden nicht so schnell verschwinden, dieser Konflikt könnte uns irgendwann vorkommen wie der Dreißigjährige Krieg in Mitteleuropa“, sagt der Therapeut Jan Ilhan Kizilhan. Es ist still im Professorenzimmer, der Tee im Samowar neben seinem Schreibtisch blubbert vor sich hin.
Über Jahre hat dieser sympathische kräftige Mann mit dem vollen schwarzen Haar am Rande des Schwarzwalds über Traumata geforscht. Er suchte nach dem, was Gesellschaften erschreckt, was den Menschen Angst macht. Das war in Ländern wie Ruanda, deren Schrecken den meisten Menschen in Mitteleuropa weit entfernt vorkommen. Doch der Schrecken ändert sich, mit den Flüchtlingen und Terroranschlägen kommt er nach Europa.
Der Schrecken für die Jesiden im Nordirak begann im August 2014. Die Terrororganisation IS nahm die nordirakische Stadt Mossul ein und stürmte dann das nahe gelegene Shingal-Gebirge mit seinen Dörfern und Weilern. Mindestens 5000 Jesiden wurden massakriert, fast 4000 sind noch in der Gefangenschaft des IS, Zehntausende sind in die Berge und in Flüchtlingscamps geflohen.
Mit sich nahmen sie ihre düsteren Erinnerungen und das Gefühl, nicht darüber sprechen zu können. Noch im Jahr 2006 hat der heute 51-jährige Traumaexperte den Aufbau von Zentren zur Therapierung von Traumata angeboten. Vergeblich. „Damals wollten die Iraker am liebsten nur medizinische Zentren haben“, obwohl die Brutalität des Krieges Tausende Menschen in Angst und Schrecken versetzt hatte. Damals schienen den Gesundheitspolitikern Prothesen und Dialyse-Einrichtungen wichtiger als Therapeuten. Heute baut Kizilhan, der Psychotherapeut aus dem Schwarzwald, an der Universität von Dohuk einen Fachbereich für Traumatherapien auf. Der Irak brauche Menschen, die sich um die seelischen Verletzungen kümmerten, sagt er. Erst der Mord an den Jesiden hat die Brutalität des Islamischen Staats in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gerückt. Seitdem ist Kizilhan, dessen Eltern in den sechziger Jahren nach Niedersachsen kamen, ein gefragter Gesprächspartner, für die Uno, für westliche Geheimdienste, für die Landesregierung von Baden-Württemberg. Er ist Kurde, so wie alle Jesiden eigentlich Kurden sind. Kizilhan spricht den Dialekt jener Menschen, deren Glauben älter ist als das Christentum und der Islam. Jesiden glauben an sieben Engel, sie verehren die Sonne, das Wasser und die Erde. Sie heiraten nicht im März, weil dann die Erde schwanger sei und sich darauf vorbereite, die Frucht wachsen zu lassen, die die Menschen ernährt. Die Jesiden folgen keiner verschriftlichten Religion und sie kennen keine Hölle. Das gefällt nicht allen, vor allem muslimischen Nachbarn. In den Jahrhunderten der Besiedlung, der Kriege und des Kolonialismus im Vordereren Orient gab es immer wieder Massaker an den Jesiden, 74 zählt ihre Geschichte.
Unter osmanischen und arabischen Besatzern wurden Fatwas verfügt, also Bannsprüche gegen die Jesiden, deren Männer getötet, Frauen versklavt und Besitz beschlagnahmt werden sollten.
Heute soll es noch 1,2 Millionen von ihnen geben, mehr als 100 000 leben in Deutschland. Doch anders als etwa Christen im Nahen Osten, die sich unter den Schutz von Diktatoren wie Saddam Hussein im Irak oder Baschar al-Assad in Syrien begaben, um vor Verfolgung sicher zu sein, investierten die Jesiden kaum in Bildung, sie sind meist keine reichen Geschäftsleute oder weltbekannte Professoren. Sondern sie zogen sich zurück in die Berge. „Das war ihre Überlebensstrategie“, sagt Kizilhan.
Auf seine wichtigste Frage hat er bis heute keine Antwort gefunden: Warum tun Menschen anderen Menschen solche bösen Sachen an, warum vergewaltigen und enthaupten sie? Der IS sei eine faschistisch-islamische Organisation, die Mehrheit der IS-Kämpfer habe keinerlei Unrechtsbewusstsein. Im Irak, der Wiege der Zivilisation, herrsche heute die Barbarei. Jene, die es in die Flüchtlingslager von Dohuk geschafft haben, seien zum Glück in Sicherheit. Amina, die junge Jesidin, weiß nicht, ob ihre Schwester und ihre Eltern noch leben. Aber irgendwann wurde sie vom Traumaexperten Kizilhan befragt, gemeinsam mit anderen wurde sie für ein Therapieprogramm in Baden-Württemberg ausgewählt. Manche der jungen Frauen erkennen nun hier bei Befragungen und bei der Suche im Internet ihre Peiniger wieder. Kizilhan ruft im Handy eine Whatsapp-Meldung auf: Jemand hat ihm das Bild eines jungen Mannes geschickt, Ramzi heißt er, der eine Jesidin missbraucht hat. Zu sehen ist ein junger Mann mit weichen Gesichtszügen, in einem langen Kaftan und mit langen Haaren. Die Bundesanwaltschaft ermittelt gegen solche Männer.
Die Kinder der Jesiden sind aufgewachsen mit diesen neuen und den alten Geschichten von Verfolgung und Tod. Als vor Kurzem am Stuttgarter Flughafen Jesidinnen aus dem Irak mit ihren Kindern ankamen, seien die gleich auf einige wartende Nonnen zugelaufen. „Die Kinder wussten instinktiv, dass sie den Christen vertrauen konnten“, hat Kizilhan beobachtet.