Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Glühwein als Treibstoff für das Geschäft mit der Besinnlich­keit

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Nun hat sie also wieder begonnen, die Saison der Weihnachts­märkte. Und weil in den vergangene­n Jahrzehnte­n so gut wie alles irgendwie gewachsen und also immer mehr geworden ist, gilt das auch für die Tendenz, einen Weihnachts­markt zu veranstalt­en. Diese Weihnachts­markteriti­s hat inzwischen nicht nur Kindergärt­en, Schulen und Seniorenhe­ime voll erfasst, auch Gasthäuser schicken sich immer öfter an, ein Stückchen vom großen, klebrigen Weihnachts­geschäft abzubekomm­en. Und weil halt bald Weihnachte­n ist – oft gerade noch der authentisc­hste Umstand an der ganzen Sache – darf es gerne auch ein bisschen mehr sein. Vor allem beim Preis.

Buden stehen dicht an dicht: Da werden – im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Stand – glänzende Geschäfte gemacht, vor allem mit Ess- und Trinkbarem. Schon die „Bild“-Zeitung diagnostiz­ierte im Jahr 2015 das „Millioneng­eschäft mit dem Glühwein“und erstellte sogar eine Art deutschen Glühweinat­las. Während man das rote Zuckergemi­sch in Hannover, Mainz oder Frankfurt demnach noch für einen Preis unter drei Euro bekommt, hat es in München, Aachen oder Nürnberg bereits die Vier-Euro-Schallmaue­r nach oben durchbroch­en. Wenn man bedenkt, dass sich in den Bechern maximal 0,2 Liter des alkoholisc­hen Heißgeträn­ks befinden, erscheint einem das Münchner Oktoberfes­t geradezu als Schnäppche­n-Parade. Denn verglichen mit einer Maß Bier (10,70 Euro pro Liter) ist der Glühwein (15-21 Euro pro Liter) stellenwei­se mehr als doppelt so teuer. Nicht so schlimm, wenn er denn wenigstens schmecken würde. Tut er aber meistens nicht! Bei genauerer Betrachtun­g ist das auch nur schwer möglich. Es geht schon los bei den Zutaten. Da gilt es nämlich zu beachten, dass weinhaltig­e Getränke mit einem Alkoholgeh­alt von sieben bis 14,5 Prozent von der Kennzeichn­ungspflich­t ausgenomme­n sind. Die ominöse Bezeichnun­g „Aromatisie­rtes weinhaltig­es Getränk, trinkferti­g gewürzt“, hat sich diesbezügl­ich durchgeset­zt. Was aber auch ohne Kennzeichn­ung beim Erstkontak­t zwischen Glühwein und Gaumen klar ist: Die rote Klebrigkei­t ist mit Unmengen Zucker versetzt. Und weil das so ist, darf getrost darauf geschlosse­n werden, dass nur die billigsten Weine üblicherwe­ise zum Einsatz kommen. Denn die geschmackl­iche Struktur eines guten Weins würde durch den Zuckerexze­ss unweigerli­ch zerstört. Beim minderwert­igen Wein übertüncht der Zucker indes jedwede Nuance – auch die negativen. Unterstell­t man den dominanten Gebrauch von Zimt und Nelke, um die angerührte Glukosebrü­he zu würzen, bleibt kulinarisc­h betrachtet nicht mehr viel übrig, im besten Fall nur ein minderwert­iges Produkt, dessen Hauptaufga­be es ist, möglichst schnell die Nüchternhe­it der Weihnachts­marktbesuc­her zu vertreiben. Immerhin: Diese Mission gelingt sehr gut. Denn durch die Wärme des Getränks weiten sich die Gefäße rasch und auch der Zucker hilft dabei, den Alkohol rasant im Blut ankommen zu lassen.

Wer beim Erwerb von Glühwein wegen der Preise hiesiger Weihnachts­märkte bereits erstarrt, sollte sich aber vor Augen führen, dass es andernorts – etwa in London – noch viel teurer geht. Dort schenkt ein Restaurant die Tasse für rund 70 Euro aus. Verwendung finden Champagner, Bordeaux und Calvados. Ob mit dem Preis auch der Grad der Besinnlich­keit steigt, kann indes nicht garantiert werden.

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FOTO: CARSTEN REHDER/DPA Aromatisie­rtes weinhaltig­es Getränk, trinkferti­g gewürzt – besser bekannt als Glühwein.
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Von Erich Nyffenegge­r

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