Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Wie Springerle Füßle bekamen
Das symbolträchtige schwäbische Gebildbrot ist wieder groß in Mode
A● nis, zwei Eier, 250 Gramm Puderzucker, 250 Gramm Mehl, etwas Hirschhornsalz – Was nach einem einfachen Rezept klingt, ist eine Kunst für sich. Und eine, die Zeit braucht. Teig rühren, ruhen lassen, ausmodeln, trocknen lassen, backen, ruhen lassen: Zwei bis drei Tage lang dauert es, bis Springerle fertig sind. „Springerle brauchen Geduld und Liebe“, sagt Michaela Schwarz aus Lichtenstein im Kreis Reutlingen. Als die 42-Jährige vor zwölf Jahren den Modelvertrieb und die Springerleproduktion zu ihrem Nebenerwerb machte, stellte sie 15 Kilogramm Gebäck her und verkaufte es auf einem Weihnachtsmarkt. Dieses Jahr haben in ihrer Backstube schon rund zwei Tonnen Springerle „Füßle“bekommen. Das entspricht bei ihr etwa 200 000 Stück. Mittlerweile vertreibt sie die schwäbische Spezialität in ganz Deutschland. Der Markt mit den Springerle boomt.
100 Jahre alte Holzmodel
Das hat auch Rose Müller-Geray aus Bad Saulgau beobachtet: „Jedes Jahr interessieren sich immer mehr Frauen für die Herstellung von Springerle, darunter auch viele junge. Nicht selten auch Männer.“Müller-Geray ist Springerle-Expertin aus Erfahrung und verkauft seit 20 Jahren auf Weihnachtsmärkten nicht nur ihre selbst gemachten Springerle, sie stellt dort auch ihre über 100 Jahre alten Holzmodel aus, Erbstücke aus mehreren Generationen. Sie selbst verwendet heute allerdings, wie auch ihre Bäckerkollegin Schwarz, Model aus Kunstharz. „Diese Model bleiben im Teig nicht kleben“, sagt sie. Gut gemehlt, am besten mit Stärke, passiert das aber auch nicht mit den Holzmodeln, die traditionell aus Birnbaum- oder Espenholz geschnitzt werden.
„Das Holz für Model muss stabil sein und wenig Struktur haben, damit das Hochrelief auf den Springerle schön wird“, sagt der Holzbildhauer und Modelschnitzer Eberhard Rieber aus Jestetten bei Waldshut. Dazu muss er zudem darauf achten, dass er die Model mit scharfen Konturen schnitzt. Model zu schnitzen gehört für Rieber zu einer Familientradition. Schon sein Vater, der ebenfalls Holzbildhauer war, musste dem Konditor am Platze nach dem Zweiten Weltkrieg neue Model schnitzen – die alten waren in einem Bombenfeuer verbrannt.
Die Schweizer sagen Anisbrötli
Die Geschichte der Springerle, die in der Schweiz Anisbrötli genannt werden, geht bis ins Mittelalter zurück. Die ältesten Model aus Stein, Metall, Keramik oder Holz, die dazu bestimmt waren, Gebäck mit Bildern zu versehen, stammen aus dem 16. Jahrhundert. Sie zeigen biblische Szenen, christliche Symbole, besonders weihnachtliche und österliche Motive wie ein Lamm oder das Herz Christi. Denn es gab sie traditionell nicht nur im Advent, womit wir sie heute meist in Verbindung bringen, sondern auch zu anderen hohen Feiertagen wie Ostern oder Pfingsten. Aber auch zu Familienfesten wie Hochzeiten oder Taufen stellte man Springerle her. Das zeigt sich auch an den weltlichen Abbildungen, die mit der Zeit hinzukamen. So waren Freundschafts- und Liebesbeweise wie Herzen, Blumenkränze, Liebesoder Hochzeitskutschen sowie Fruchtbarkeitszeichen sehr beliebt. Verbreitet war auch das Motiv modisch gekleideter Damen. Außerdem prächtig geschmückte Reiter, die freilich mit der Entstehung des Namens Springerle nichts zu tun haben. Wahrscheinlich kommt dieser vom Aufspringen oder Aufgehen des Teiges beim Backen. So entsteht an der Unterseite des Gebäcks ein „Fuß“.
Allen verständliche Bildsprache
Wie auch der Spekulatius, der ursprünglich die Geschichte des heiligen Nikolaus erzählte, oder der oberschwäbische „Klausenmann“aus Hefeteig gehören Springerle zum sogenannten Gebildbrot, also einem Sinn- oder Bildergebäck. „In Zeiten, als die meisten Menschen weder lesen noch schreiben konnten, zeigten die Bilder eine Sprache, die jeder verstand. In der Zeit der Gegenreformation benutzten die Katholiken das Gebildgebäck sogar zur Wiederverbreitung ihres Glaubens“, sagt der Kulturwissenschaftler Manuel Trummer. Aber nicht jeder konnte es sich leisten, dieses Gebäck zu backen oder zu kaufen, denn die Zutaten, wie zum Beispiel der Zucker, waren teuer. „Ausgefallene, großformatige Springerle waren früher auch ein Statussymbol für adelige oder wohlhabende Familien, die sich mit ihren Wappen repräsentieren wollten“, weiß Trummer.
Heute sind Springerle kein Luxusgut mehr. Obwohl sie jahrzehntelang eher unbeachtet blieben, sind sie inzwischen wieder in aller Munde. „Weil die Menschen ihre Welt von der digitalisierten Technik und den Medien beherrscht empfinden, in der vieles abstrakt und anonym ist, sehnen sie sich danach, wieder mit ihren Händen etwas zu erschaffen und damit an alte Traditionen anzuknüpfen“, sagt Felicitas Günther, die in Calw die Städtischen Museen leitet. Auch in ihrer Sammlung befinden sich alte Springerle-Model, die sie bald wieder ausstellen will.
Andrang beim Schaubacken
Günther hat sich sozial- und kulturwissenschaftlich mit Gebrauchsgegenständen beschäftigt. Gerade beim Backen knüpfen die Menschen wieder an ihre Wurzeln und ihre sentimentalen Familienerinnerungen an. „So hat es immer bei der Oma gerochen“, befindet eine Frau, die sich mit vielen anderen vor dem Stand der Springerlebäckerin Michaela Schwarz auf dem kleinen Adventsmarkt in Heiligkreuztal drängeln, um beim Schaubacken nichts zu verpassen. Schwarz mahnt lächelnd ihre Zuschauerinnen zur Geduld bei der Herstellung mit dem, was die Großmütter schon wussten: „Wenn die Springerle keine Füßle bekommen, hängt der Segen in der Küche schief.“Da hilft es auch nicht, alles noch einmal umzumodeln.