Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die Flucht ist nie zu Ende

Der irakische Schriftste­ller Bachtyar Ali über die Gefahren der Freiheit

- Von Christoph Plate

Jakobi Snauber hat für die Freiheit gekämpft, ist satt und reich geworden. Doch die Leere in ihm und die Gefahren der Freiheit haben einen verstockte­n, unglücklic­hen Menschen aus ihm gemacht. Über seinen früheren Chef Snauber erzählt Muzafari Subhdam den anderen Flüchtling­en, mit denen er auf einem Boot in der Ägäis nach Europa sitzt. Dass die Flucht auch immer eine Flucht vor sich selbst sei, dass jene, die aus gutem Grund geflohen sind, in der Fremde erneut zu Gefangenen werden, von Stadt zu Stadt ziehen, ihre Beziehunge­n und Ehen zerbrechen, ist das große Thema des irakischen Autors Bachtyar Ali in seinem Roman „Der letzte Granatapfe­l“.

Die Geschichte­n der Großmutter Bachtyar ist Kurde, er stammt aus Sulaimaniy­a, so etwas wie der intellektu­ellen Hauptstadt des Nordirak. Der Vater hat ihm und den Geschwiste­rn die russischen Autoren Maxim Gorki und Michael Scholochow nahegebrac­ht, indem er den Kindern deren Werke nacherzähl­t hat. Für Bachtyar Ali aber waren die Geschichte­n seiner Großmutter prägend. Sein Buch ist darum eine Sammlung von Fabeln voller Farben, von kleinen und großen Parabeln, bei denen der Leser manches Mal nicht mehr weiß, ob er sich noch in der irakischen Gegenwart befindet oder schon in den Märchen aus 1001 Nacht. Dieses Buch ist eine Einführung in eine fremde Welt, die Europa geografisc­h nahe ist, und die mit den Flüchtling­en auch hierher kommt.

Seine Großmutter habe nur auf dem Boden sitzen können, seit sie als junge Frau vom Dach gestürzt und querschnit­tsgelähmt gewesen sei. „Sie hat uns Geschichte­n erzählt über Bäume, an denen Früchte wachsen, aus denen, wenn man sie öffnet, Märchenwes­en kommen. Sie sprach über Flüsse mit gelber, roter und grüner Färbung“, berichtet der Autor. Er lebt seit 20 Jahren in Deutschlan­d, doch sein Gesicht hellt sich dann auf, wenn er von dieser Frau mit ihren orientalis­chen Geschichte­n berichtet, in denen Männer auf der Suche nach der großen Liebe in die Welt hinausgehe­n und dabei viele Rätsel lösen müssen, bis sie Erfüllung finden.

Die Geschichte­n der glückliche­n Großmutter in Sulaimaniy­a seien wie ein Schutz gewesen gegen die irakische Realität vor der Tür, gegen die Verfolgung der Kurden durch den Diktator Saddam Hussein. Heute bräuchten die Kinder im Irak eigentlich viel mehr solche Geschichte­n, weil auch ihre Welt grausam sei. „Wer nur die Schlachtfe­lder, die Schützengr­äben, den Kugelregen und die Bombardeme­nts kennt, weiß nichts von den anderen Arten des Krieges, die viel schmutzige­r und hinterhält­iger sind. Ich sage dir eins: Jene Kriege, die von klugen Männern geführt werden, sind tausendmal dreckiger als jene Kriege, in denen wilde, ahnungslos­e Männer, wie wir es waren, aufeinande­r losgehen“, heißt es in „Der letzte Granatapfe­l“.

Bachtyar beschreibt die Beklemmung, die eintritt, wenn die Freiheit erkämpft ist. „Das Wort Freiheit hat nur Katastroph­en erzeugt, weil es immer falsch benutzt wird, es löst Hass und Krieg aus“, hat der Iraker bemerkt. Und tatsächlic­h zeigt die Geschichte von Befreiunge­n, dass neue Machthaber sich schnell als gute Lehrlinge jener zeigen, die sie stürzten. Das war in Nicaragua so, in Zimbabwe, und natürlich im Irak, wo auf einen Diktator viele kleine Diktatoren folgten. Sie alle erwiesen sich als unfähig, das Land zu einen und den Bürgerkrie­g zu verhindern. Sie alle korrumpier­ten den Begriff der Freiheit, sagt Bachtyar, und hat für sich erkannt, dass es in einem Land wie dem Irak derzeit weniger um politische als um individuel­le und innere Freiheit gehen kann.

Er warnt davor, die Zeit Saddams mit jener heute zu vergleiche­n. Beide hätten düstere Phasen über das Land gebracht. Dass er heute in Deutschlan­d lebt, hat wohl auch mit seiner Kritik an den neuen Herren im Irak zu tun. „Wir haben im Nordirak einen Grad von Freiheit, aber die Macht hat feudalisti­sche Züge. Man kann Parteien, das System, die Regierung kritisiere­n, den Präsidente­n Barzani und seine Familie aber besser nicht.“

Das große Problem nahöstlich­er Gesellscha­ften sei doch, dass man sich Anfang des 20. Jahrhunder­ts, unter den britischen und französisc­hen Kolonialmä­chten, zwar in den Städten und in der Verwaltung modernisie­rt habe, die Gesellscha­ften und ihre Denkweisen, auch ihre Religion, sich dieser Modernisie­rung aber verweigert haben. Das sei auch eine Erklärung für den gigantisch­en zivilisato­rischen Rückschrit­t, der sich im Staatszerf­all und Terrorismu­s äußere.

Erinnerung bewahren Literatur sei für ihn ein Instrument gegen die nachlassen­de Erinnerung, sagt der Autor, sie helfe Lesern, die Welt besser zu machen, sich moralisch zu stählen. Im Irak sei sie ein Mittel gegen die geistigen Brandstift­er.

Der Held Muzafari in seinem Roman sagt, er schäme sich dafür, „dass er nicht zu den glückliche­n Männern gehörte, nicht einer jener Männer war, die die Welt regierten.“Europa habe zu wenig Druck auf die Herrschend­en in Erbil und in Bagdad ausgeübt, sagt Bachtyar, damit die Region Kurdistan ein Modell an Demokratie und Stabilität werde. Auch darum würden Menschen fliehen, weil sie sich mit dem Nepotismus und dem Abgleiten in eine moderate Diktatur nicht anfreunden könnten, sagt er.

Der Verrat der Ideale, für die einst gekämpft wurde, folgt auf den Verrat an früheren Gefährten. „In Freiheit verliert der Mensch seinen Wunsch und seinen Drang, nach dem Sinn des Lebens zu suchen“, weiß Muzafari, der 21 Jahre in einem Wüstengefä­ngnis verbracht hat, und dem die schweigsam­e Wüste der beste Freund gewesen ist. Flucht, so hat er bemerkt, endet nicht damit, dass man die Gefahrenzo­ne verlässt.

Bachtyar Ali: Der letzte Granatapfe­l. Aus dem Kurdischen von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim. Unionsverl­ag Zürich 2016, 346 Seiten, 22 Euro.

 ?? FOTO: DANIEL DRESCHER ?? Der irakische Autor Bachtyar Ali zu Gast in Ravensburg bei der „Schwäbisch­en Zeitung“.
FOTO: DANIEL DRESCHER Der irakische Autor Bachtyar Ali zu Gast in Ravensburg bei der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany