Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ausweglose Situation
Falls der türkische Präsident Erdogan geglaubt haben sollte, die Lage in seinem Land mithilfe des Ausnahmezustandes unter Kontrolle bringen zu können, dann hat er sich offensichtlich getäuscht. Obwohl die Sicherheitsbehörden freie Hand bei der Verfolgung von Verdächtigen haben, können Gewalttäter unbemerkt mit einer 300-KiloAutobombe mitten ins Stadtzentrum von Istanbul fahren und ein Blutbad anrichten.
Spätestens der schreckliche Doppel-Anschlag am Samstagabend in der Metropole Istanbul macht deutlich, dass der immer weiter vorangetriebene Ausbau polizeilicher Vollmachten und der gleichzeitige Abbau rechtsstaatlicher Absicherungen den Terror nicht aufhalten können. Manche Kritiker werfen Erdogan vor, mit den Säuberungswellen seit dem Putschversuch vom Juli viele Antiterror-Experten von ihren Posten entfernt zu haben.
Mehr denn je hätte die Türkei jetzt eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über Freiheitsrechte, Minderheiten und die Instrumente des Rechtsstaates nötig. Doch daran ist nicht zu denken. Die Chefs der legalen Kurdenpartei HDP sitzen hinter Gittern, fast 200 Journalisten ebenfalls. Wer nicht für mich ist, ist ein Landesverräter – mit dieser Formel will Erdogan die Errichtung einer Präsidialrepublik durchsetzen. Dieses neue System werde dem Land Ruhe und Stabilität bescheren, verspricht er. Doch zumindest vorerst eskaliert die Gewalt in der Türkei weiter.
Die kommenden Monate versprechen keinerlei Verbesserung der Lage. Im Januar beginnt im Parlament in Ankara die Debatte über die Umstellung auf das Präsidialsystem, im Frühjahr oder Sommer soll dann eine Volksabstimmung darüber stattfinden. Schon unter normalen Umständen würde ein solch umstrittenes Vorhaben ein Land politisch erschüttern. In der Türkei mit ihren zahlreichen ungelösten Konflikten und der seit diesem Sommer stark zunehmenden Repression könnte das Blutbad von Besiktas womöglich der Auftakt einer neuen Welle von Gewalttaten gewesen sein.
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