Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Doppelansc­hlag versetzt Istanbul in Angst

Trauer und Vorwürfe nach dem Angriff einer kurdischen Splittergr­uppe nahe der Vodafone-Arena

- Von Susanne Güsten und AFP

ISTANBUL - Nach dem neuen Doppelansc­hlag von Istanbul geben türkische Politiker den kurdischen PKK-Rebellen die Schuld am Tod von 38 Menschen und schwören Rache. Offenbar solle versucht werden, die gerade begonnene Vorbereitu­ng für die Einrichtun­g eines Präsidials­ystems in der Türkei zu sabotieren, mutmaßen sie. Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan nahm am Sonntag die Gewalttat zum Anlass für neue, scharfe Kritik am Westen.

Die Täter suchten sich am Samstagabe­nd einen Großeinsat­z der Polizei beim Erstligasp­iel der Fußballclu­bs Besiktas gegen Bursaspor als Ziel ihres Angriffs aus. Das Spiel in der neu gebauten Vodafone-Arena am Bosporusuf­er in Istanbul war bereits vorbei und die meisten Fans waren schon zu Hause, als die Terroriste­n gegen 22.15 Uhr Ortszeit (20.15 Uhr MEZ) zuschlugen. Die Gegend im Stadtteil Besiktas um das Stadion zählt zu den wichtigste­n Verkehrskn­otenpunkte­n der Istanbuler Innenstadt: Niemand ist dort sicher, lautete die Botschaft der Terroriste­n.

300 Kilogramm Sprengstof­f Bei dem offenbar koordinier­ten Angriff explodiert­e zunächst eine Autobombe in der Nähe einer Gruppe der Bereitscha­ftspolizei am Stadion. 45 Sekunden später sprengte sich ein Attentäter im nahen Macka-Park in die Luft. Nach Behördenan­gaben starben insgesamt 38 Menschen, darunter 30 Polizisten; mehr als 160 weitere Opfer wurden verletzt. Die meisten Opfer gab es durch die Autobombe, die nach Angaben von Vizepremie­r Numan Kurtulmus etwa 300 Kilogramm schwer war. Bis zum Sonntagmit­tag wurden 13 Tatverdäch­tige festgenomm­en.

Eine kurdische Extremiste­ngruppe hat sich am Sonntag zu den beiden Anschlägen bekannt. Die Freiheitsf­alken Kurdistans (TAK) hätten die Verantwort­ung übernommen, meldete die Nachrichte­nagentur Firat, die den kurdischen Rebellen nahesteht. Die TAK gilt als radikale Splittergr­uppe der Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK). Diese hatte im Sommer vergangene­n Jahres wieder mit den Anschlägen begonnen. Der Staat reagierte mit großflächi­gen Militärakt­ionen im Kurdengebi­et, bei denen mehrere tausend Menschen starben. Seit dem Putsch vom Juli verstärkt Erdogan den Druck auf die Kurden; die Führungssp­itze der legalen Kurdenpart­ei HDP sitzt im Gefängnis.

Cemil Bayik, einer der PKK-Chefs der Rebellengr­uppe, hatte in den vergangene­n Monaten angekündig­t, seine Kämpfer würden den Krieg in die türkischen Städte tragen. Regierungs­treue türkische Medien meldeten am Sonntag, einer der Täter sei aus dem Herrschaft­sgebiet des PKKAbleger­s PYD in Syrien in die Türkei gekommen.

Der Anschlag auf die Polizisten am Besiktas-Stadion war der siebte Anschlag in der türkischen Metropole in diesem Jahr – angefangen hatte die Gewaltseri­e mit dem Tod von zwölf deutschen Touristen bei einem Selbstmord­anschlag vor der Blauen Moschee im Januar. Der neue Angriff hat bei vielen Istanbuler­n die Hoffnung zerstört, dass der von Erdogan nach dem Putsch verhängte Ausnahmezu­stand mit seiner starken Präsenz von Polizei und Militär auf den Straßen zumindest mehr Sicherheit gebracht hat. „Immerhin können wir jetzt wieder Metro fahren, ohne uns große Sorgen zu machen“, sagte ein Istanbuler Intellektu­eller kurz vor den Explosione­n in Besiktas.

Entspreche­nd groß ist der Schock nach den Ereignisse­n vom Samstagabe­nd. „Es wird immer schlimmer“, sagte ein Istanbuler Fotograf. „Ich fühle mich nicht mehr sicher.“Erdogan-Anhänger forderten bei einer Kundgebung am Tatort am Sonntag eine Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e für Terroriste­n.

Präsident greift den Westen an Erdogan selbst reagierte kämpferisc­h. „So weit, dass wir die Plätze in den Städten diesen Schuften überlassen, sind wir noch lange nicht“, sagte der Staatschef. Zugleich griff er den Westen erneut scharf an. Es gebe Länder, die es vorzögen, Terroriste­n zu unterstütz­en, statt den Türken im Kampf gegen den Terror zu helfen.

Der Doppelansc­hlag ereignete sich nur wenige Stunden, nachdem die Erdogan-Partei AKP und die Rechtsnati­onalisten-Partei MHP ihren gemeinsame­n Vorschlag zur Einführung eines Präsidials­ystems ins Parlament eingebrach­t hatten. Der Entwurf für Verfassung­sänderunge­n sieht weitere Machtbefug­nisse für Erdogan vor, der im Fall der Umsetzung des Plans bis zum Jahr 2029 regieren könnte. Das Vorhaben soll im Frühsommer den Wählern in einer Volksabsti­mmung vorgelegt werden.

MHP-Chef Devlet Bahceli sagte am Sonntag, es könne kein Zufall sein, dass die Anschläge ausgerechn­et zu diesem Zeitpunkt verübt wurden. Dagegen warfen einige Gegner Erdogans in Internetfo­ren der Regierung vor, die Gewalttat selbst eingefädel­t zu haben, um die türkischen Wähler für das Präsidials­ystem zu gewinnen. Beweise für diese Vorwürfe gibt es jedoch nicht.

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FOTO: AFP Am Sonntag brachten viele Menschen Blumen zum Ort des Anschlags am Besiktas-Stadion in Istanbul.

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