Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Mit Reus im Eisregen
Der Angreifer bewahrt den BVB mit einem Treffer in letzter Minute wieder vor einer Pleite
an kann sich Borussia Dortmund in dieser Saison wie ein Stück des frühen Goethes vorstellen. Eine junge, leidenschaftliche, unstete Mannschaft, irgendwo verortet zwischen Werther und Egmont, tanzend auf der dünnen Linie wischen Kitsch und Zauber, zwischen Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt. Und immer: Drama, Baby! Zum zweiten Mal hintereinander war es nun Marco Reus, der seinen Kameraden, Trainern und den Zuschauern zur großen Gefühlsexplosion verhalf. Nicht so ganz bombastisch wie am Mittwoch, beim 2:2 bei Real Madrid, eher erleichtert, bedeutete Reus’ Tor in der 90. Minute ja nur das späte (und recht glückliche) 1:1 beim 1. FC Köln.
Mal wieder spät belohnt Dortmunds Trainer Thomas Tuchel musste dank Reus so wenigstens nicht die ganz große Frage beantworten, ob es vielleicht sein könnte, dass seinen Eleven die Bundesliga irgendwie zu schnöde ist und sie nur in Europa glänzen können oder gar wollen. Sondern konnte vor allem dank des lange verletzten Nationalspielers erleichtert, aber nicht unbedingt zufrieden vor allem das Offensichtliche feststellen: „Das Kompliment ist viel größer als der erhobene Zeigefinger. Wir haben uns reingebissen und sind spät belohnt worden. Du musst auch mal konstatieren: Okay, dann ist es an diesem Tag eben ein Punkt, nimmst ihn und fährst nach Hause.“Außerdem: „Wir haben acht neue Spieler, die teilweise noch nie Bundesliga gespielt haben. Die Mehrzahl weiß gar nicht, was es bedeutet, in Köln zu spielen, wie emotional das wird. Die wenigsten sind es gewohnt, alle drei Tage zu spielen. Und der Trainer spielt auch zum ersten Mal Champions League.“
Tuchel hat den ganz großen Umbruch beim BVB im Sommer vorangetrieben, nachdem Ilkay Gündogan, Henrick Mkhitaryan und Mats Hummels die Schwarz-Gelben in Richtung Manchester und München verließen, er selbst hat sich diese hochtalentierte, aber unfertige Mannschaft zusammengestellt, die spektakulär nach vorne spielen, aber oft eine gewisse Unlust am Verteidigen an den Tag legt und manchmal ein wenig den Faden verliert, wenn ihr die Gegner, wie am Samstag in Köln, mit großer Leidenschaft sprichwörtlich auf den Füßen steht. Er wollte es so und steht dazu. Doch Tuchel ist es auch, der die Kaprizen seiner Spieler am nähesten erleben muss. Also ließ er sich nach diesem Remis, in dem seine Mannschaft zum zehnten Mal in dieser Saison in der Schlussviertelstunde getroffen, was einserseits für eine gewisse Moral spricht, andererseits aber die Nerven aller Beteiligten arg strapaziert, zu einem schönen Vergleich hinreissen. „Wenn du in der Wettervorhersage hörst, es regnet, dann nimmst du einen Schirm mit. Und dann gibt es einen schönen Sturm dazu und du stehst im Eisregen – dann fühlt es sich trotzdem scheiße an.“
Nur Lob hatte der Trainer indes für den Torschützen übrig, der den Treffer von Artjoms Rudnevs (28.) egalisierte. „Marco war uns völlig weggebrochen seit dem Pokalfinale. Ich habe mir ernsthaft Sorgen gemacht, wann und wie er zurückkommt“, sagte Tuchel. Es war Reus’ 50. Bundesligator, seine zehnte Torbeteiligung in nur fünf Spielen und 319 Einsatzminuten in dieser Saison. „Er ist mit seiner Torgefahr und Persönlichkeit nicht zu ersetzen, das wird jetzt noch offensichtlicher“, sagte Tuchel. Inmitten einer Mannschaft der Inkonstanten ist auf den Nationalspieler Verlass. Kapitän Marcel Schmelzer sprach aus, was in Dortmund alle denken dürften: „Hoffentlich bleibt er uns lange erhalten.“