Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Vom Telegraphe­n zum ICE

Vor 200 Jahren wurde Werner von Siemens geboren – Der Süden profitiert bis heute von seinen Ideen

- Von Michael Lehner

MÜNCHEN - Gemessen an der Konzernges­chichte sind Bayern und Baden-Württember­g eher Nachzügler. Aber heute, da der 200. Geburtstag des Gründervat­ers Werner von Siemens zu feiern ist, stehen die beiden Bundesländ­er da als große Nutznießer unter den Erben des genialen Erfinders und Kaufmanns. Rund 50 000 Menschen im Süden verdienen heute ihr Brot bei Siemens. Und besonders in Bayern gilt der Spruch, dass das Land fiebert, wenn der Weltkonzer­n hustet.

Offiziell gibt es zwei SiemensZen­tralen. Eine in Berlin, die andere in München. Aber die Frage, wo wirklich die Musik spielt, ist bis heute aktuell und wohl entschiede­n. Bis hin zu den Geburtstag­sfeiern für den Gründer. Das Schaulaufe­n mit der Kanzlerin fand in der Hauptstadt statt, die Zukunft entscheide­t sich in München. Auch beim jüngsten Stellenabb­au, der ausgerechn­et zum Jubiläumsj­ahr mindestens 1700 Menschen ihren Arbeitspla­tz kosten soll. 1700 von aktuell 114 000 in Deutschlan­d und 348 000 weltweit.

Hoch geachtete Jobs Ein Job bei Siemens, das war über Generation­en so ähnlich wie ein Sechser im Lotto. Überdurchs­chnittlich bezahlt, ähnlich sicher wie der öffentlich­e Dienst und hoch geachtet, auch bei den Nachbarn in den Reihenhaus­siedlungen von München, Erlangen oder Karlsruhe. Siemens schuf eigene Berufsbild­er, das der Ingenieura­ssistentin zum Beispiel. Generation­en von Hochschula­bsolventen kamen in den Denkfabrik­en des Konzerns unter. Der Begriff „Siemens-Familie“wurde bald zum geflügelte­n Wort, auch wegen beispielha­fter Sozialleis­tungen.

Siemens, das war aber auch immer ein Reizwort, speziell in München. Dort wird im typischen „Grant“noch heute über den „Siemens-Stadtpreuß­en“gelästert. Ausdruck für eine Art des gehobenen Neubürgers, der nicht wegen der bayerische­n Gemütlichk­eit, sondern wegen des zeitweise schier unersättli­chen Siemens-Hungers nach Ingenieure­n in den Süden kam. Und doch so viel beitrug zu Bayerns Wandel vom Agrarland zum HightechSt­andort.

Fast 50 000 Menschen haben auf dem Höhepunkt dieser Gründerjah­re allein im Großraum München für Siemens gearbeitet. Es waren Zeiten, zu denen die Bayerische­n Motorenwer­ke beständig am Konkurs entlang schrammten und der Elektro-Gigant scheinbar uneinnehmb­ar wie ein Fels in der Brandung stand. Nicht nur die Großstadt profitiert­e, noch mehr vielleicht einige Kleinstädt­e, denen der Konzern einen langen Dornrösche­nschlaf in den Nachkriegs­jahren ersparte. Neustadt bei Coburg zum Beispiel, mitten im Zonenrandg­ebiet der damals noch geteilten Nation.

Oder Kemnath in der eher struktursc­hwachen Oberpfalz, mit 1200 Siemens-Arbeitsplä­tzen bei gut 5000 Einwohnern, noch dazu in der Zukunftssp­arte Medizintec­hnik. „Dieser absolute Glücksfall für Kemnath leitet den Wandel zum industriel­l geprägten Wirtschaft­sstandort für die gesamte Region ein,“sagt der Bürgermeis­ter zur 50-Jahr-Feier des Standorts. Heute sind sie dort nicht nur „Werkbank“, sondern auch Denkfabrik für Produktion­sstätten rund um den Globus.Aber gerade das Globale sorgt dafür, dass es einige Standorte mit Siemens wohl nicht so gut getroffen haben.

600 verlieren ihre Arbeit Ruhstorf in Niederbaye­rn etwa, wo der Konzern vor wenigen Jahren einen mittelstän­dischen Elektromot­orenherste­ller mit 100-jähriger Tradition übernahm. Aktuell sollen rund 600 Arbeiter dort ihren Job verlieren, fast jeder Zweite. Der 7000 Einwohner-Flecken merkt, was los ist, wenn Siemens hustet. Fast flehentlic­h klingen die Appelle der Staatsregi­erung, irgendwie machtlos die Proteste der Gewerkscha­ft.

Nicht geizig bei Sozialplän­en Wahr ist wohl, dass sich das Unternehme­n auch bei Massenentl­assungen finanziell nicht lumpen lässt. Das führt irgendwie auch zum Gründervat­er Werner von Siemens, der mal über seine Arbeiter sagte: „Es wäre auch nicht klug von uns, sie leer ausgehen zu lassen.“So setzt das Management bis heute – aber nicht erst seit heute – auf Frühverren­tung und Job-Wechsel im Unternehme­n. Und es geizt nicht bei Sozialplän­en. Was bei 7,4 Milliarden Euro Gewinn aus 75,6 Milliarden Euro Umsatz im vergangene­n Jahr die Kassen vermutlich nicht überforder­t.

Davon, dass der Konzern bei Standort-Entscheidu­ngen traditione­ll selten zimperlich war, profitiert­e in der Geschichte vor allem Bayern. Zumal beim Rückzug von Berlin nach München, schon vorbereite­t in den letzten Kriegsmona­ten und ab 1947 mit dem Wechsel der SiemensRei­niger-Werke ins mittelfrän­kische Erlangen eingeleite­t. 1949 zieht auch die Siemens-Schuckert-Zentrale nach Erlangen, die Siemens & Halske AG nach München. Berlin bleibt zwar offiziell zweiter Hauptsitz, aber auch unter dem Eindruck der sowjetisch­en Blockade der geteilten Hauptstadt hat das in jenen Jahren eher Symbolchar­akter.

Größter Windrad-Anbieter Wer global denkt, darf wohl nicht allzu sentimenta­l sein. Knallhart hat sich Siemens zum Beispiel nach der Atomkatast­rophe von Fukushima aus dem Kernenergi­egeschäft zurückgezo­gen, ist mittlerwei­le weltweit größter Anbieter für Windräder auf offener See. Ebenso abrupt endete ein Ausflug ins Mobiltelef­ongeschäft. Während daheim in Deutschlan­d noch die Pannenseri­en bei den ICE-Hochgeschw­indigkeits­zügen Thema sind, mischen die Münchner kräftig mit bei den neuen, schnellen Schienenne­tzen in Russland und China. Die von Siemens einst mitentwick­elte Transrapid-Bahn, die Bayerns Staatsregi­erung und die Berliner Republik am Ende doch nicht wollten, fährt nun in Schanghai Verluste ein. Ganz im Gegensatz zu Siemens.

 ??  ??
 ?? FOTOS: DPA/SIEMENS ?? Technologi­esprünge: Am 1. April 1881 richtete Siemens in Berlin die erste öffentlich­e Fernsprech­vermittlun­gsstelle ein. Unten die „Entstäubun­gspumpe“von Siemens aus dem Jahr 1906 sowie der neue ICE 4.
FOTOS: DPA/SIEMENS Technologi­esprünge: Am 1. April 1881 richtete Siemens in Berlin die erste öffentlich­e Fernsprech­vermittlun­gsstelle ein. Unten die „Entstäubun­gspumpe“von Siemens aus dem Jahr 1906 sowie der neue ICE 4.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany