Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Vom Telegraphen zum ICE
Vor 200 Jahren wurde Werner von Siemens geboren – Der Süden profitiert bis heute von seinen Ideen
MÜNCHEN - Gemessen an der Konzerngeschichte sind Bayern und Baden-Württemberg eher Nachzügler. Aber heute, da der 200. Geburtstag des Gründervaters Werner von Siemens zu feiern ist, stehen die beiden Bundesländer da als große Nutznießer unter den Erben des genialen Erfinders und Kaufmanns. Rund 50 000 Menschen im Süden verdienen heute ihr Brot bei Siemens. Und besonders in Bayern gilt der Spruch, dass das Land fiebert, wenn der Weltkonzern hustet.
Offiziell gibt es zwei SiemensZentralen. Eine in Berlin, die andere in München. Aber die Frage, wo wirklich die Musik spielt, ist bis heute aktuell und wohl entschieden. Bis hin zu den Geburtstagsfeiern für den Gründer. Das Schaulaufen mit der Kanzlerin fand in der Hauptstadt statt, die Zukunft entscheidet sich in München. Auch beim jüngsten Stellenabbau, der ausgerechnet zum Jubiläumsjahr mindestens 1700 Menschen ihren Arbeitsplatz kosten soll. 1700 von aktuell 114 000 in Deutschland und 348 000 weltweit.
Hoch geachtete Jobs Ein Job bei Siemens, das war über Generationen so ähnlich wie ein Sechser im Lotto. Überdurchschnittlich bezahlt, ähnlich sicher wie der öffentliche Dienst und hoch geachtet, auch bei den Nachbarn in den Reihenhaussiedlungen von München, Erlangen oder Karlsruhe. Siemens schuf eigene Berufsbilder, das der Ingenieurassistentin zum Beispiel. Generationen von Hochschulabsolventen kamen in den Denkfabriken des Konzerns unter. Der Begriff „Siemens-Familie“wurde bald zum geflügelten Wort, auch wegen beispielhafter Sozialleistungen.
Siemens, das war aber auch immer ein Reizwort, speziell in München. Dort wird im typischen „Grant“noch heute über den „Siemens-Stadtpreußen“gelästert. Ausdruck für eine Art des gehobenen Neubürgers, der nicht wegen der bayerischen Gemütlichkeit, sondern wegen des zeitweise schier unersättlichen Siemens-Hungers nach Ingenieuren in den Süden kam. Und doch so viel beitrug zu Bayerns Wandel vom Agrarland zum HightechStandort.
Fast 50 000 Menschen haben auf dem Höhepunkt dieser Gründerjahre allein im Großraum München für Siemens gearbeitet. Es waren Zeiten, zu denen die Bayerischen Motorenwerke beständig am Konkurs entlang schrammten und der Elektro-Gigant scheinbar uneinnehmbar wie ein Fels in der Brandung stand. Nicht nur die Großstadt profitierte, noch mehr vielleicht einige Kleinstädte, denen der Konzern einen langen Dornröschenschlaf in den Nachkriegsjahren ersparte. Neustadt bei Coburg zum Beispiel, mitten im Zonenrandgebiet der damals noch geteilten Nation.
Oder Kemnath in der eher strukturschwachen Oberpfalz, mit 1200 Siemens-Arbeitsplätzen bei gut 5000 Einwohnern, noch dazu in der Zukunftssparte Medizintechnik. „Dieser absolute Glücksfall für Kemnath leitet den Wandel zum industriell geprägten Wirtschaftsstandort für die gesamte Region ein,“sagt der Bürgermeister zur 50-Jahr-Feier des Standorts. Heute sind sie dort nicht nur „Werkbank“, sondern auch Denkfabrik für Produktionsstätten rund um den Globus.Aber gerade das Globale sorgt dafür, dass es einige Standorte mit Siemens wohl nicht so gut getroffen haben.
600 verlieren ihre Arbeit Ruhstorf in Niederbayern etwa, wo der Konzern vor wenigen Jahren einen mittelständischen Elektromotorenhersteller mit 100-jähriger Tradition übernahm. Aktuell sollen rund 600 Arbeiter dort ihren Job verlieren, fast jeder Zweite. Der 7000 Einwohner-Flecken merkt, was los ist, wenn Siemens hustet. Fast flehentlich klingen die Appelle der Staatsregierung, irgendwie machtlos die Proteste der Gewerkschaft.
Nicht geizig bei Sozialplänen Wahr ist wohl, dass sich das Unternehmen auch bei Massenentlassungen finanziell nicht lumpen lässt. Das führt irgendwie auch zum Gründervater Werner von Siemens, der mal über seine Arbeiter sagte: „Es wäre auch nicht klug von uns, sie leer ausgehen zu lassen.“So setzt das Management bis heute – aber nicht erst seit heute – auf Frühverrentung und Job-Wechsel im Unternehmen. Und es geizt nicht bei Sozialplänen. Was bei 7,4 Milliarden Euro Gewinn aus 75,6 Milliarden Euro Umsatz im vergangenen Jahr die Kassen vermutlich nicht überfordert.
Davon, dass der Konzern bei Standort-Entscheidungen traditionell selten zimperlich war, profitierte in der Geschichte vor allem Bayern. Zumal beim Rückzug von Berlin nach München, schon vorbereitet in den letzten Kriegsmonaten und ab 1947 mit dem Wechsel der SiemensReiniger-Werke ins mittelfränkische Erlangen eingeleitet. 1949 zieht auch die Siemens-Schuckert-Zentrale nach Erlangen, die Siemens & Halske AG nach München. Berlin bleibt zwar offiziell zweiter Hauptsitz, aber auch unter dem Eindruck der sowjetischen Blockade der geteilten Hauptstadt hat das in jenen Jahren eher Symbolcharakter.
Größter Windrad-Anbieter Wer global denkt, darf wohl nicht allzu sentimental sein. Knallhart hat sich Siemens zum Beispiel nach der Atomkatastrophe von Fukushima aus dem Kernenergiegeschäft zurückgezogen, ist mittlerweile weltweit größter Anbieter für Windräder auf offener See. Ebenso abrupt endete ein Ausflug ins Mobiltelefongeschäft. Während daheim in Deutschland noch die Pannenserien bei den ICE-Hochgeschwindigkeitszügen Thema sind, mischen die Münchner kräftig mit bei den neuen, schnellen Schienennetzen in Russland und China. Die von Siemens einst mitentwickelte Transrapid-Bahn, die Bayerns Staatsregierung und die Berliner Republik am Ende doch nicht wollten, fährt nun in Schanghai Verluste ein. Ganz im Gegensatz zu Siemens.