Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
EU gespalten über Umgang mit Erdogan
Österreich drängt auf Stopp der Beitrittsgespräche – Deutschland ist dagegen
BRÜSSEL - In der Türkei geht die Verhaftungswelle weiter. Für zwei Anschläge in Istanbul am Samstag hatte sich eine kurdische Splittergruppe verantwortlich erklärt. Am Montag wurden bei landesweiten Razzien nach Angaben von HDP-Sprecher Ayhan Bilgen mindestens 237 ranghohe Politiker der Kurdenpartei festgenommen. In Brüssel zeigte sich bei einem Treffen der EU-Außenminister, dass es im Umgang mit der Türkei keine einheitliche Linie gibt.
Während mehrere Minister wie der Luxemburger Jean Asselborn den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen wollen, verlangt sein österreichischer Kollege Sebastian Kurz „zumindest ein Einfrieren der Beitrittsverhandlungen.“Dafür hatte sich im November auch das EU-Parlament ausgesprochen. In den letzten Jahren habe sich die Türkei immer weiter von Europa entfernt, in den letzten Monaten habe sich die Entwicklung beschleunigt, sagte Kurz am Montag. Österreich war seit Beginn der Beitrittsverhandlungen 2005 besonders skeptisch über eine mögliche Annäherung der Türkei an die EU.
Warnung von Kurz Er verurteile die Attacken vom Wochenende, sagte Kurz. Aber es dürfe nicht sein, dass die türkische Regierung Oppositionelle einsperre und damit drohe, die Todesstrafe einzuführen. Steuere die EU nicht dagegen, werde sich die Flüchtlingskrise verschärfen – und zwar wegen politisch Verfolgten aus der Türkei. Inakzeptabel sei auch, dass die türkische Regierung ihre Landsleute im Ausland zu beeinflussen versuche.
Die Europaminister, die am heutigen Dienstag in Brüssel den EU-Gipfel vorbereiten, könnten sich der österreichischen Position anschließen. Dies ist aber wenig wahrscheinlich. Nur wenn ein Drittel der Mitgliedsstaaten es fordert oder wenn die EUKommission zu dem Schluss kommt, dass die Reformen im Bereich Menschenrechte und Meinungsfreiheit ins Stocken geraten sind, können die Verhandlungen ausgesetzt werden.
Gegen den Widerstand Österreichs kann zwar kein neues Kapitel in den Beitrittsverhandlungen eröffnet werden. Es können aber genauso wenig gegen den Widerstand mehrerer EU-Staaten die Verhandlungen unterbrochen oder gestoppt werden. Kurz’ Forderung wird angeblich von Bulgarien und den Niederlanden unterstützt. Eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten teilt die Haltung des Luxemburger Außenministers, die EU könne dem türkischen Volk besser helfen, wenn sie mit Ankara im Gespräch bleibe. Seien die Verhandlungen gestoppt, gebe es keine Einflussmöglichkeiten – weder beim Thema Todesstrafe noch beim Zypernproblem, warnte Asselborn.
Auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) warnt vor einem Abbruch der EUBeitrittsgespräche. Die Türkei-Gespräche zu stoppen, halte er „nicht für verantwortungsvolle Außenpolitik“, sagte Steinmeier in Brüssel.
Die EU ist auf die Mithilfe Ankaras bei der Blockierung der Flüchtlingsroute über die Ägäis angewiesen. Als Belohnung für diesen Dienst waren der Türkei Finanzhilfe und Reisefreiheit in Aussicht gestellt worden. Das Thema hat für Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan große Bedeutung, auch wenn derzeit nur wenige Türken über einen biometrischen Pass verfügen, der zur Einreise ohne Visum berechtigen würde.