Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Liebe auf dem Prüfstand
Optisch und musikalisch gelungen: Glucks Ballettoper „Orfeo ed Euridice“in St. Gallen
ST. GALLEN - Als veritable Ballettoper hat Beate Vollack am Theater St. Gallen Christoph Willibald Glucks Dreiakter „Orpheus und Eurydike“inszeniert. Seit zwei Jahren ist sie dort Leiterin der Tanzkompanie. Der griechische Dirigent George Petrou steht erstmals am Pult des dortigen Sinfonieorchesters. Als Chef des Ensembles Armonia Atenea hat er mit Opern wie Händels „Arminio“oder Johann Adolph Hasses „Siroe“Furore gemacht. Seine Erfahrungen mit diesem Repertoire kommen hörbar auch der St. Galler Produktion zugute.
Die Partie des mythischen Musikers Orfeo, der die Furien der Unterwelt durch Gesang und Harfenspiel dazu bringen möchte, ihm seine am Hochzeitstag verstorbene Frau Euridice ins Leben zurückzugeben, übernimmt Xavier Sabata. Dass ihm die Besänftigung der Höllenwächter tatsächlich gelingt, verdankt der katalanische Countertenor nicht nur der betörenden Leuchtkraft seiner Stimme, sondern auch seiner Schauspielkunst und seinem beachtlichen Körpereinsatz im Rahmen von Vollacks Choreografie.
Die beiden anderen Rollen des Drei-Personen-Stücks werden in doppelter Besetzung jeweils gesungen und getanzt. Cecilia Wretemark verleiht als stumme Euridice im weißen Hochzeitskleid der Ohnmacht einer Toten beredten physischen Ausdruck. Als schwarz gewandetes Pendant schenkt Tatjana Schneider der Figur erst im dritten Akt ihren silberglänzenden, weich geführten Sopran. Sheida Damghani macht Orfeo als Amor mit blauweißem Faltenröckchen, blauen Stiefelchen und silbernen Pfeilen im Köcher mit keckem Mezzosopran Hoffnung.
Handlung als Versuchsanordnung Die Bedingungen, unter denen der frühe Witwer freilich das normalerweise Aussichtslose schaffen könnte, sind nahezu ebenso unmöglich zu erfüllen. Orfeo fühlt das deutlich, aber es bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Versuch zu wagen. David Schwindling sieht als Amors tänzerisches Alter Ego mit grau gefleckten kurzen Hosen, Kniestrümpfen und dunkel umrandeten Augen eher aus wie dessen gruftiger Antagonist Pluto. Liebesgott und Herr der Unterwelt scheinen sich hier um Leben oder Tod für Euridice zu streiten.
Beate Vollack entfaltet die Handlung als Versuchsanordnung. Amor will damit erkunden, wie weit Menschen für die Liebe ihres Lebens gehen würden. Dem Chor (perfekt einstudiert von Michael Vogel) fällt die Rolle von Wächtern zu, die mit schwarzen Roben und weiß geschminkten Gesichtern von einer hohen Empore im Hintergrund die Szene kontrollieren und kommentieren. Eine steile Schräge führt zu ihnen hoch. Für die Probanden des Experiments, die unten agieren, ist sie kaum zu überwinden (Ausstattung: Kinsun Chan).
Mehrmals klettert Orfeo nach oben zu Euridice, rutscht aber wieder hinunter auf die Vorderbühne. Hier wird der Widerstreit seiner Gefühle ausgetragen inmitten von tanzenden Wesen. Imposant wirbeln Paare um die Protagonisten herum, fliegen in Reihen aufeinander zu und voneinander weg, bis Orfeo beschließt, sie durch Gesang zu bannen. Die begleitende Harfe enthüllt er als Tattoo auf seinem muskulösen Rücken. Spannend visualisiert Vollack das Duett der Liebenden als szenisches Quartett mit den konkurrierenden Göttern.
Überraschendes Ende Als Amor eine Leiter für Orfeo vom Bühnenhimmel zaubert, sieht man gleich, dass sie viel zu steil, zu fragil, zu hoch ist. Eigentlich kann die Rettung Euridices niemals klappen. Doch Vollack deutet das Happyend anders. Für sie versagt Orfeo nicht, als er sich nach Euridice umsieht. Er macht sich vielmehr von Amors Bedingungen frei, stellt Liebe und Mitleid über die Tugend der Selbstbeherrschung. Nach seiner erschütternden, von einem Solotänzer kongenial assistierten Klage „Che farò“bricht der Gott das Mythos-Experiment ab. Orfeo hat den Test im Sinne Amors bestanden und darf zur Belohnung mit seiner wiedergefundenen Euridice an einem rauschenden Ballettfest teilnehmen.
George Petrou lässt schwungvoll und transparent musizieren. Er rückt die Partitur stilistisch nicht in die Nähe eines klassizistisch erstarrten Ideals von „edler Einfalt und stiller Größe“, sondern reklamiert Gluck als Zeitgenossen von Jommelli und C.P.E. Bach. Das schlanke, delikate Klangbild tut dem Stück gut und gibt ihm im Verlauf einer langen Rezeptionsgeschichte abgeschliffene Facetten zurück.
Weitere Vorstellungen sind am 14., 20., 22. und 30. Dezember, 8., 13., 15. und 22. Januar sowie am 11. Februar 2017. Karten unter: www.theatersg.ch oder per Telefon 0041/7124 20606.