Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Entgleisung der Gefühle
Die belgischen Brüder Dardenne berühren das Publikum mit ihrem neuen Kinofilm „Das unbekannte Mädchen“
Um ein guter Arzt zu werden, musst du stärker sein, als deine Gefühle“, erklärt Jenny ihrem studentischen Praktikanten, der kaum jünger ist als sie. Jenny ist ohne Frage eine sehr gute Ärztin: Hingebungsvoll, zugleich in ihrer Arbeit kaltblütig. Anfang 30, eben mit dem Studium fertig, bekommt sie bereits die Zusage für eine begehrte Stelle im Krankenhaus von Lüttich. Zugleich hat sie das Angebot ihres alten Lehrmeisters, eines angesehenen Arztes, in einem sozial schwachen Viertel dessen Praxis weiterzuführen. Das will sie aber nicht annehmen. Sie will Karriere machen.
„Du muss deine Gefühle kontrollieren können“– wenn solche Sätze im Kino fallen, erst recht in einem Film der Brüder Dardenne, dann ahnt man schon: Sie wird ihre Lektion zu lernen haben. Sie wird die Suppe, die sie sich moralisch eingebrockt hat, bis zum bitteren Ende auslöffeln müssen – denn Gefühlskontrolle ist nicht en vogue, und vor dem postfaktischen Zeitgeist, dem schnelle Emotionen wichtiger sind als kühle Argumente, bildet auch das Kino keinen Schutzraum.
Genauso kommt es in „Das unbekannte Mädchen“, dem neuesten Werk der renommierten belgischen Brüder Dardenne: Gerade noch diskutiert Jenny mit ihrem Praktikanten, da klingelt es an der Praxistür. „Nicht mehr öffnen!“, sagt die gestresste Ärztin, „wir haben schon seit mehr als einer Stunde Schluss.“
Am nächsten Tag klingelt die Polizei, denn unweit der Praxis wird eine junge Frau tot aufgefunden. Es stellt sich schnell heraus, dass sie es war, die am Vorabend in den letzten Minuten ihres Lebens an Jennys Praxis geklingelt hat. Vielleicht hätte sie gerettet werden können? Sie ist das unbekannte Mädchen des Titels – nicht die vom französischen Shootingstar Adèle Haenel in der Hauptrolle in allen Facetten emotionaler Aufwühlung, ihrem Ehrgeiz und ihrer Hartnäckigkeit eindringlich gespielte Ärztin Jenny.
Jenny bekommt Schuldgefühle und verliert darüber die Fassung. Als die Polizei alles vermeintlich routiniert zu den Akten legt, macht sie sich den Fall zu eigen und ermittelt als eine Art belgische Miss Marple auf eigene Faust. So entwickelt sich der Film zu einer Kriminalgeschichte mit moralischen Schattierungen. Ein Drama der Schuldgefühle.
Die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne („Rosetta“, „Der Junge auf dem Fahrrad“) sind zusammen mit dem Briten Ken Loach die Sozialpäpste des internationalen Autorenfilms. Auch sie gewannen zweimal die Goldene Palme von Cannes, auch sie repräsentieren jenen Zweig, der für die Probleme der Gesellschaft zuständig ist: Grau in grau sind die Tapeten, die Straßen und die Häuser, aber auch die Aussichten der Menschen. Die Hauptfiguren haben oft einen grundguten Charakter und bescheidene Träume. Es sind die Verhältnisse, von denen sie gemartert werden. Voller Anteilnahme und unbedingt gut gemeint sind diese Filme – in ihrem Humanismus und der Kritik an den herrschenden Zuständen. Und doch könnten die Unterschiede zwischen beiden kaum größer sein.
Auf Augenhöhe mit der Hauptfigur Gegenüber Loachs politischem Manifest-Kino ist „Das unbekannte Mädchen“weitaus subtiler, und vor allem richtet es sich an das Publikum selbst, an die gebildeten und wohlhabenden Mittelschichten, die die große Mehrheit des Kinopublikums ausmachen. Die Hauptfigur ist eine Ärztin, kein Arbeiter, kein Analphabet, kein Geflüchteter aus Kriegsgebieten. Insofern kann man sich dieser Geschichte viel schwerer entziehen. Man guckt nicht von außen etwas Fremdem zu, sondern auf Augenhöhe einem Menschen, der vielen von uns ähnelt. Und das berührt einen tief.
Der Film handelt letztlich vom Schuldkomplex des Westens gegenüber der Dritten Welt, der Reichen gegenüber den Armen. Am Ende wirft die junge Ärztin ihre privilegierte Position im Krankenhaus weg und übernimmt die Armenpraxis.
„Das unbekannte Mädchen“, Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne, Belgien/Frankreich, 106 Minuten, FSK: ab 6, mit Adèle Haenel.