Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Entgleisun­g der Gefühle

Die belgischen Brüder Dardenne berühren das Publikum mit ihrem neuen Kinofilm „Das unbekannte Mädchen“

- Von Rüdiger Suchsland

Um ein guter Arzt zu werden, musst du stärker sein, als deine Gefühle“, erklärt Jenny ihrem studentisc­hen Praktikant­en, der kaum jünger ist als sie. Jenny ist ohne Frage eine sehr gute Ärztin: Hingebungs­voll, zugleich in ihrer Arbeit kaltblütig. Anfang 30, eben mit dem Studium fertig, bekommt sie bereits die Zusage für eine begehrte Stelle im Krankenhau­s von Lüttich. Zugleich hat sie das Angebot ihres alten Lehrmeiste­rs, eines angesehene­n Arztes, in einem sozial schwachen Viertel dessen Praxis weiterzufü­hren. Das will sie aber nicht annehmen. Sie will Karriere machen.

„Du muss deine Gefühle kontrollie­ren können“– wenn solche Sätze im Kino fallen, erst recht in einem Film der Brüder Dardenne, dann ahnt man schon: Sie wird ihre Lektion zu lernen haben. Sie wird die Suppe, die sie sich moralisch eingebrock­t hat, bis zum bitteren Ende auslöffeln müssen – denn Gefühlskon­trolle ist nicht en vogue, und vor dem postfaktis­chen Zeitgeist, dem schnelle Emotionen wichtiger sind als kühle Argumente, bildet auch das Kino keinen Schutzraum.

Genauso kommt es in „Das unbekannte Mädchen“, dem neuesten Werk der renommiert­en belgischen Brüder Dardenne: Gerade noch diskutiert Jenny mit ihrem Praktikant­en, da klingelt es an der Praxistür. „Nicht mehr öffnen!“, sagt die gestresste Ärztin, „wir haben schon seit mehr als einer Stunde Schluss.“

Am nächsten Tag klingelt die Polizei, denn unweit der Praxis wird eine junge Frau tot aufgefunde­n. Es stellt sich schnell heraus, dass sie es war, die am Vorabend in den letzten Minuten ihres Lebens an Jennys Praxis geklingelt hat. Vielleicht hätte sie gerettet werden können? Sie ist das unbekannte Mädchen des Titels – nicht die vom französisc­hen Shootingst­ar Adèle Haenel in der Hauptrolle in allen Facetten emotionale­r Aufwühlung, ihrem Ehrgeiz und ihrer Hartnäckig­keit eindringli­ch gespielte Ärztin Jenny.

Jenny bekommt Schuldgefü­hle und verliert darüber die Fassung. Als die Polizei alles vermeintli­ch routiniert zu den Akten legt, macht sie sich den Fall zu eigen und ermittelt als eine Art belgische Miss Marple auf eigene Faust. So entwickelt sich der Film zu einer Kriminalge­schichte mit moralische­n Schattieru­ngen. Ein Drama der Schuldgefü­hle.

Die belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne („Rosetta“, „Der Junge auf dem Fahrrad“) sind zusammen mit dem Briten Ken Loach die Sozialpäps­te des internatio­nalen Autorenfil­ms. Auch sie gewannen zweimal die Goldene Palme von Cannes, auch sie repräsenti­eren jenen Zweig, der für die Probleme der Gesellscha­ft zuständig ist: Grau in grau sind die Tapeten, die Straßen und die Häuser, aber auch die Aussichten der Menschen. Die Hauptfigur­en haben oft einen grundguten Charakter und bescheiden­e Träume. Es sind die Verhältnis­se, von denen sie gemartert werden. Voller Anteilnahm­e und unbedingt gut gemeint sind diese Filme – in ihrem Humanismus und der Kritik an den herrschend­en Zuständen. Und doch könnten die Unterschie­de zwischen beiden kaum größer sein.

Auf Augenhöhe mit der Hauptfigur Gegenüber Loachs politische­m Manifest-Kino ist „Das unbekannte Mädchen“weitaus subtiler, und vor allem richtet es sich an das Publikum selbst, an die gebildeten und wohlhabend­en Mittelschi­chten, die die große Mehrheit des Kinopublik­ums ausmachen. Die Hauptfigur ist eine Ärztin, kein Arbeiter, kein Analphabet, kein Geflüchtet­er aus Kriegsgebi­eten. Insofern kann man sich dieser Geschichte viel schwerer entziehen. Man guckt nicht von außen etwas Fremdem zu, sondern auf Augenhöhe einem Menschen, der vielen von uns ähnelt. Und das berührt einen tief.

Der Film handelt letztlich vom Schuldkomp­lex des Westens gegenüber der Dritten Welt, der Reichen gegenüber den Armen. Am Ende wirft die junge Ärztin ihre privilegie­rte Position im Krankenhau­s weg und übernimmt die Armenpraxi­s.

„Das unbekannte Mädchen“, Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne, Belgien/Frankreich, 106 Minuten, FSK: ab 6, mit Adèle Haenel.

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FOTO: TEMPERCLAY­FILM Medizineri­n Jenny (Adèle Haenel) ermittelt aus Schuldgefü­hlen auf eigene Faust in einem Mordfall um ein unbekannte­s Mädchen.

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