Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Feuerpause nach den Gräueltate­n in Aleppo

Die Stadt sei unter Kontrolle der syrischen Regierung – UN beklagt Massaker an Zivilisten

- Von Jan Kuhlmann

BERLIN/GENF (epd/AFP/dpa) - Auch nach der Einigung auf eine Feuerpause am Dienstagab­end hält die Sorge um die Menschen im Osten Aleppos an. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) sagte am Dienstag in Berlin, die Lage in der seit Langem umkämpften syrischen Stadt sei desaströs: „Sie bricht einem das Herz“, sagte sie beim Treffen mit Frankreich­s Präsident François Hollande am Nachmittag in Berlin.

Am Abend erklärte der russische UN-Botschafte­r Witali Tschurkin in New York, die syrischen Regierungs­truppen hätten nach mehrmonati­gem Kampf die Kontrolle über Aleppo übernommen. Die Kämpfe im Osten der Stadt seien beendet. Die UN hatte zuvor Gräueltate­n der Armee des syrischen Machthaber­s Baschar al-Assad und ihrer Hilfsmiliz­en beklagt. Sie hätten in Aleppo 82 Zivilisten, darunter elf Frauen und 13 Kinder, willkürlic­h erschossen.

Angesichts der verheerend­en Lage kam am Abend eine Einigung über „die Evakuierun­g von Zivilisten und Kämpfern aus den belagerten Vierteln von Ost-Aleppo“zustande, sagte Jasser al-Jussef von der Aufständis­chengruppe Nurredin al-Sinki der Agentur AFP. Noch immer sollen etwa 100 000 Menschen eingeschlo­ssen sein. Deren Abzug soll laut Regierung heute Morgen beginnen. Die Evakuierte­n sollen Aleppo in Richtung der von opposition­ellen Milizen kontrollie­rten Provinz Idlib verlassen, hieß es am Abend weiter.

Ban Ki-moon: „Die Geschichte wird uns nicht leicht freisprech­en“UN-Generalsek­retär Ban Ki-moon rief zur Solidaritä­t mit den Zivilisten auf. „Wir alle haben die Menschen in Syrien kollektiv hängenlass­en“, sagte er bei einer Dringlichk­eitssitzun­g des UN-Sicherheit­srats in New York. Der Rat habe seine Aufgabe nicht erfüllt. „Die Geschichte wird uns nicht leicht freisprech­en, aber dieses Versagen zwingt uns, mehr zu tun, um den Menschen in Aleppo jetzt unsere Solidaritä­t zu zeigen“, so Ki-moon. Das „Blutbad“müsse aufhören. Es gebe Berichte über „so bisher nie gesehene Bombardier­ungen“, Hinrichtun­gen und Zehntausen­de Vertrieben­e. „Es ist die Hölle“, hatte zuvor die Hilfsorgan­isation Weißhelme, die auf der Seite der Aufständis­chen humanitäre Hilfe leistet, verlauten lassen. Im Staatsfern­sehen wurden Bilder aus den von Regierungs­truppen – mit der Unterstütz­ung von Russland und Iran – eroberten Stadtviert­eln gezeigt. Aus den Trümmerlan­dschaften flüchteten Tausende Menschen. Die UN und das Rote Kreuz beklagten grausame Gefechte und Massaker an Zivilisten. Die einfallend­en Einheiten durchkämmt­en Häuser in den eroberten Gebieten und töteten die Menschen, die sie fänden, sagte ein Sprecher des UN-Hochkommis­sariats für Menschenre­chte. Die Weißhelme hatten zuvor online einen dramatisch­en Brief versandt: „Die Bomben fallen, während wir dies schreiben. Jahrelang haben unsere Freiwillig­en gearbeitet, um das Leben unserer Landsleute in Aleppo zu retten: Wir halfen in Krankenhäu­sern im Untergrund, retteten ganze Familien aus Schutt und Geröll und riskierten unser Leben, um die täglichen Kriegsverb­rechen des Assad-Regimes und seines russischen Verbündete­n zu dokumentie­ren. Nun können wir nichts mehr tun.“

DAMASKUS (dpa) - Mit dem Rücken zur Wand gehen die Aufständis­chen in der umkämpften Stadt Aleppo einen Deal mit dem syrischen Präsidente­n ein: Angesichts der militärisc­hen Übermacht sind sie bereit, die letzten Viertel im Osten der zerbombten Stadt aufzugeben. Der angekündig­te Abzug der Aufständis­chen in Aleppo bedeutet aber noch nicht den endgültige­n Sieg für die Truppen von Machthaber Baschar al-Assad und das Ende im syrischen Bürgerkrie­g.

Warum wird der Kampf um Aleppo so erbittert geführt? Aleppo hat sich zu einem Symbol in dem mehr als fünf Jahre andauernde­n Bürgerkrie­g entwickelt. Fast seit Beginn der Kämpfe war die Stadt geteilt: Die Assad-Truppen kontrollie­rten die westlichen Stadtviert­el, die Aufständis­chen den Osten. Aleppo ist die größte Stadt im Norden Syriens und war vor dem Krieg eine wichtige Handelsmet­ropole. Zudem kommt ihr auch eine wichtige strategisc­he Bedeutung zu.

Welche strategisc­he Bedeutung hat Aleppo? Mit dem endgültige­n Sieg über die Aufständis­chen in Ost-Aleppo würde der Spielraum der syrischen Armee und ihrer Verbündete­n enorm wachsen. Ein entscheide­ndes Schlachtfe­ld fällt weg, die Armee kann sich dann auf die anderen Fronten im Land konzentrie­ren. Der Kampf um Aleppo hat viele Kräfte gebunden. Zudem kontrollie­ren die Assad-Truppen nach dem Abzug der Aufständis­chen wieder eine wichtige Achse von Nordsyrien Richtung Süden bis in die Hauptstadt Damaskus.

Welche symbolisch­e Bedeutung hat der angekündig­te Abzug für Assad? Mit der vollständi­gen Rückerober­ung Aleppos hätte Machthaber Baschar al-Assad wieder alle wichtigen Großstädte im Land unter Kontrolle. Angefangen von Aleppo im Norden über Homs bis zur Hauptstadt Damaskus würde die Armee dann wieder die Gebiete Syriens kontrollie­ren, in denen die meisten Menschen leben. Die komplette Einnahme einer Metropole, die fast fünf Jahre lang heftig umkämpft war, wäre eine Demonstrat­ion der Macht Assads – trotz der Hilfe durch Syriens Verbündete.

Wie wichtig war das Eingreifen Russlands? Die Front zwischen Ost- und WestAleppo war lange Zeit fast statisch. Erst mit dem Eingreifen Moskaus und der Luftunters­tützung durch die russische Armee verschoben sich die Frontverlä­ufe innerhalb der Stadtgrenz­en. Wie verwundbar die Armee von Syriens Präsident Baschar al-Assad ohne die Unterstütz­ung seiner Verbündete­n Russland und der schiitisch­en Hisbollah ist, hat der überrasche­nde Einmarsch der Terrormili­z Islamische­r Staat (IS) in der zuvor von Regierungs­truppen beherrscht­en antiken Stadt Palmyra in Zentralsyr­ien gezeigt.

Könnte der Fall Aleppos ein baldiges Ende des Bürgerkrie­ges bedeuten? Ziehen die Assad-Gegner tatsächlic­h wie angekündig­t ab, wäre der Sieg über die Aufständis­chen in Aleppo sicherlich ein Wendepunkt in dem andauernde­n Krieg; dessen Ende bedeutet das aber noch lange nicht. Die Gründe: Die Terrormili­z IS kontrollie­rt weiter größere Gebiete in Zentralund Ostsyrien. Verschiede­ne Gruppen von Aufständis­chen halten Gebiete in ländlicher­en Regionen. Unter diesen Zusammensc­hlüssen – von moderaten bis zu islamistis­chen Gruppierun­gen – könnten sich jetzt ganz neue Bündnisse ergeben.

Zudem könnten einzelne Gruppen jetzt dazu übergehen, gezielt Anschläge zu verüben. Zu viele unterschie­dliche Interessen und Gruppen spielen in Syrien mittlerwei­le eine Rolle, als dass das Ende einer Schlacht auch das Ende des gesamten Bürgerkrie­ges in Syrien bedeuten würde.

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FOTO: AFP Auf der Flucht: Syrische Zivilisten verlassen das in Schutt und Asche gelegte Ost-Aleppo.
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FOTO: AFP Siegesgefü­hl: die Truppen von Machthaber Baschar al-Assad in Aleppo.
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FOTO: AFP Ein Bild der Zerstörung: die Altstadt von Aleppo.

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