Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Der Feind im Kopf

Michelle Wörle ist ein fröhlicher Mensch, doch sie leidet am Tourette-Syndrom – und überzieht ihre Umgebung mit Schimpfwör­tern

- Von Markus Bär

BAISWEIL - Die erste Begegnung mit Michelle Wörle ist wirklich skurril. Die 22-Jährige aus Baisweil im Ostallgäu begrüßt ihren Gast, einen unbedarfte­n Reporter, sehr freundlich und mit aller Offenheit. Doch schon nach kurzer Zeit fängt sie mitten im Gespräch an, mit den Fingern zu schnipsen. Dann schlägt sie sich unvermitte­lt mit der Faust gegen die Brust, verdreht die Augen – und sagt einem direkt ins Gesicht: „Du hast einen schönen Penis.“

So. Da fällt einem erst einmal nicht viel ein. Außer sich – im Übrigen natürlich komplett angezogen – artig zu bedanken, wenngleich etwas unbeholfen. Man weiß ja, dass Michelle Wörle nichts für ihren plötzliche­n Ausbruch kann. Gleich danach verläuft das Gespräch auch wieder in ganz normalen Bahnen. Die junge Frau wechselt zurück vom Du ins förmliche Sie. Michelle Wörle leidet an einer der wohl rätselhaft­esten Erkrankung­en, die es gibt: dem Tourette-Syndrom. Eine Krankheit, von der man bis heute nicht weiß, woher sie kommt und wie man sie heilen kann. Besonderes Merkmal ist das plötzliche Ausstoßen von Schimpfwör­tern und Obszönität­en. Dass dies enorme Auswirkung­en auf das soziale Leben eines Erkrankten hat, liegt auf der Hand. Wer stellt schon jemanden ein, der Kunden, Kollegen oder die Chefs beschimpft?

Vor ungefähr drei Jahren ging es los. Da war sie 19 und schon mittendrin in ihrer Ausbildung zur tiermedizi­nischen Fachangest­ellten in einer Tierarztpr­axis in Dietmannsr­ied im Oberallgäu, wo sie sich 2012 nach der Realschulz­eit an der Mindelheim­er Maria-Ward-Schule beworben hatte. Mit Tieren zu arbeiten, war und ist ihr Traumjob. Sie hat selbst daheim ein Pferd auf einer Wiese stehen.

„Eines Tages verdrehten sich meine Augen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte“, erzählt sie. „Das sieht für manche Außenstehe­nde so aus, als sei ich völlig genervt.“Sie rollt die Augen teilweise so stark, dass nur noch das Weiße des Augapfels zu sehen ist. Dann kam immer mehr dazu: Schulterzu­cken, plötzliche­s Schiefhalt­en des Kopfes. „Wir sind zum Hausarzt gegangen, zum Augenarzt, zum Neurologen – aber die haben erst einmal nichts gefunden“, sagt Michelles Mutter Claudia Wörle.

Früher, sagt sie, ist ihr an der Tochter nie etwas aufgefalle­n. Außer dass Michelle besonders lebendig und fröhlich ist. Aber darüber muss man sich ja keine Sorgen machen. In der neurologis­chen Abteilung des Kaufbeurer Klinikums verschrieb­en die Ärzte ihr Medikament­e gegen die Tics. „Ich war die ganze Zeit müde und erledigt, aber die Tics verschwand­en nicht“, sagt Michelle Wörle. In dieser Zeit schrieb sie ihre Abschlussp­rüfungen für die Ausbildung. Die sie mit einem Zweierschn­itt beendete; danach hat der Chef sie gleich übernommen.

Weil die Medikament­e nicht wirklich halfen, wurden sie wieder abgesetzt. Im Oktober 2015 kam dann die nächste Steigerung: „Ich fing an zu pfeifen.“Das ging den ganzen Tag so. Neben den Tics wie dem Augenverdr­ehen, die blieben. Irgendwann begann Michelle, sich mit der Faust auf die Brust zu schlagen. „Das ging so weit, dass ich lauter blaue Flecken hatte.“

Schließlic­h stellte die Neurologie in Kaufbeuren die Verdachtsd­iagnose „Tourette-Syndrom“und überwies die junge Frau nach München in eine Spezialamb­ulanz der Uniklinik. „In dieser Zeit ging es dann auch noch los mit den Schimpfwör­tern.“Unvermitte­lt werden Familienmi­tglieder, Freunde oder Kollegen mit Begriffen und Sätzen wie „Arschloch“, „F... dich“, „Du bist hässlich“überzogen. „Und das sind noch harmlose Bezeichnun­gen“, sagt die Mutter.

Es muss raus Aber woher kommt das? Die Wissenscha­ft hat dafür bislang keine Erklärung. „Das ist wie Niesen oder wenn man auf die Toilette muss“, sagt Michelle. „Ich kann es kurzzeitig unterdrück­en – aber irgendwann muss es raus.“In der Tierarztpr­axis beispielsw­eise kann sie es eine Weile unter Kontrolle halten. Deshalb bekämen viele Besucher davon nichts mit. „Später kriegen es vor allem meine Chefs ab.“

Bis heute ist nicht geklärt, warum Erkrankte ausgerechn­et Schimpfwör­ter, Beleidigun­gen und Obszönität­en von sich geben, sagt Dr. Albert Putzhammer, der ärztliche Direktor des Bezirkskra­nkenhauses in Kaufbeuren. „Das ist ein großes Rätsel.“Bekannt sei, dass sich das TouretteSy­ndrom unter Stress verstärke. Es gibt aber auch paradoxe Phänomene. Wenn Michelle Wörle beispielsw­eise im OP steht und bei Eingriffen assistiert, muss sie sich sehr konzentrie­ren. „Dann werden die Symptome weniger – aber nur vorübergeh­end“, sagt sie.

„Am Anfang der Ausbildung war das alles ja noch gar nicht abzusehen“, erinnert sich Dr. Uwe Bockius, einer der Inhaber der Tierarztpr­axis. „Wir haben aber gelernt, damit umzugehen.“Sich von Michelle zu trennen, kommt für ihn nicht infrage. „Für mich ist sie eine sehr gute, engagierte Mitarbeite­rin“, sagt Bockius. „Sie bringt sich viele Dinge selbst bei, sie ist eine unglaublic­h tolle Kraft.“

Inzwischen hat sie in der Praxis ein Informatio­nsblatt für Besucher ausgelegt. „Die Menschen reagieren mit viel Verständni­s, viele haben vorher von der Erkrankung noch nie etwas gehört“, sagt ihr Chef. Ihm ist es wichtig, dass die Menschen mehr über die Krankheit aufgeklärt werden. Wenn man Verständni­s dafür habe, verkleiner­e sich das Problem von allein. Man könne – auch als Arbeitgebe­r – damit umgehen.

Michelle Wörle hat für sich einen Weg gefunden, um mit Tourette zu leben. Viele Betroffene sprechen von einem Kobold, der in ihren Köpfen Unfug treibt und dafür sorgt, dass Schimpfwör­ter ausgesproc­hen werden. Bei ihr ist es kein Kobold, sondern Hansjörg. So hat sie ihn getauft. „Derjenige, der schimpft, das ist Hansjörg, der Hansjörg in meinem Kopf.“Er ist der Schuldige.

Eines Tages ist sie zu einem Bundestref­fen der Tourette-Erkrankten in die Nähe von Köln gereist. Und hat dabei erstaunlic­he Dinge erfahren. Etwa, dass die Krankheit auch eine erbliche Komponente haben könnte. „Dort gab es eine Mutter mit Tourette – und ihre Tochter hatte es auch.“Wissenscha­ftler haben herausgefu­nden, dass es offenbar vererbbare Formen des Syndroms gibt und andere Formen, in denen es keinerlei Hinweise auf eine familiäre Belastung gibt. Meist bricht die Krankheit schon im Kindes- oder im Jugendalte­r aus, so gut wie nie aber nach dem 21. Lebensjahr. Und Männer sind dreimal so häufig betroffen wie Frauen.

Eine andere Tourette-Erkankte, die Michelle bei dem Treffen kennengele­rnt hat, raucht 15 Joints am Tag. Es heißt, dass Marihuana und Haschisch die Symptome lindern sollen. Aber 15 Joints am Tag? Ist man da nicht die ganze Zeit benebelt? „Das Interessan­te ist: Diese Frau war völlig klar, sie ist nicht im Mindesten berauscht“, erzählt Michelle Wörle. „Aber ihre Symptome sind besser. Sie hat sogar ein ärztliches Gutachten, dass sie nur Auto fahren darf, wenn sie gekifft hat.“

Auch die Allgäuerin hat jetzt bei der Krankenkas­se beantragt, dass man ihr ein Cannabis-Mundspray bezahlt. Aber das ist noch nicht genehmigt. Das Medikament ist nicht ganz billig. Es kostet etwa 300 Euro.

Mittlerwei­le ärgert Hansjörg die 22-Jährige noch mehr. Wenn auf einem Tisch leere Gläser stehen oder Zigaretten­packungen liegen, kann es sein, dass Michelle plötzlich auf sie einschlägt. Die Symptome verschlimm­ern sich. Michelle lässt sich davon nicht beirren. Sie geht weiter gerne arbeiten. „Mein Hobby“, sagt sie. Dazu zählt auch das Fotografie­ren. „Außerdem helfe ich gerne beim Kühemelken“, erzählt sie mit einem Lächeln. Ihr Heimatdorf Baisweil ist eine idyllisch gelegene Landgemein­de. Dort gibt es noch viel Landwirtsc­haft.

„Eines Tages verdrehten sich meine Augen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte.“Michelle Wörle über das erste Symptom, das sie vor vier Jahren erlebte

Auch das Pferd wird beschimpft Große Teile ihrer Freizeit verbringt sie mit ihren Freundinne­n. Die kennt sie zum Teil noch aus der Schulzeit. Sie haben mitbekomme­n, wie Michelle erkrankte – und wissen, wie man mit ihrem Problem umgeht. Außerdem ist da noch Franz, ihr Pferd. Es tut ihr gut, bei ihm im Stall zu sein, mit ihm auszureite­n. „Aber auch Franz bekommt immer wieder sein Fett ab“, sagt Michelle und kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Derjenige, der schimpft, das ist Hansjörg, der Hansjörg in meinem Kopf.“Michelle Wörle über ihren Weg, mit Tourette klarzukomm­en

Sie hofft sehr, dass sich ihre Erkrankung nicht weiter verschlimm­ert. Bei vielen Betroffene­n klingen die Symptome mit zunehmende­m Alter ab. Aber das muss nicht zwangsläuf­ig bei jedem so sein. Einen großen Traum will Michelle Wörle im kommenden Jahr verwirklic­hen: Sie will nach Namibia reisen und dort auf Fotosafari gehen. „Es wird mein erster Flug mit Tourette. Mal sehen, wie das wird.“

Schätzunge­n zufolge gibt es in Deutschlan­d ungefähr 40 000 Betroffene. Statistisc­h betrachtet heißt dies, dass in Schwaben mit immerhin 900 Erkrankten zu rechnen wäre. Die Zahlen sind allerdings sehr vage, weil das Syndrom nicht meldepflic­htig ist und viele Betroffene gar nicht in Behandlung sind.

Für die Zukunft wünscht sich Michelle Wörle, dass noch mehr Menschen vom Tourette-Syndrom erfahren. Deshalb will sie demnächst in Schulen gehen, will über sich und ihre Erkrankung erzählen und eine schwabenwe­ite Selbsthilf­egruppe gründen. Hansjörg soll sie nicht unterkrieg­en.

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FOTO: RALF LIENERT Michelle Wörle aus Baisweil leidet am Tourette-Syndrom. Die Krankheit ist benannt nach Dr. Georges Gilles de la Tourette, ein französisc­her Nervenarzt, der 1885 erstmals Fälle dieser Art beschrieb.

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