Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kein Anruf unter dieser Nummer

Wenn Menschen keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern wollen

- Von Pia Jaeger, epd

Plötzlich oder schleichen­d: Egal, wie der Kontaktabb­ruch zwischen Kindern und Eltern erfolgt, für die Betroffene­n ist er schwierig und vielfach unerklärli­ch.

Geschrei, verletzend­e Worte und der entscheide­nde Satz: Ich will euch nicht mehr sehen! Türen schlagen, Stille. Danach ist nichts mehr wie vorher. So oder ähnlich kann ein Kontaktabb­ruch zu den Eltern ablaufen. Manchmal liegt auch einfach ein Brief auf dem Tisch, eine E-Mail wartet im Postfach oder Kontaktver­suche der Eltern verlaufen im Nichts. Plötzlich heißt es: Kein Anruf unter dieser Nummer.

Kontaktabb­rüche zwischen erwachsene­n Kindern und Eltern sind keine Seltenheit. Bei Juliane Mayer, die in Wirklichke­it anders heißt und nicht erkannt werden möchte, ging das ohne Türenschla­gen: „Ich habe es ganz offiziell gemacht und gesagt, dass ich keinem die Schuld gebe“, sagt sie. Dabei tut sie es eigentlich schon. „Aber es hat keinen Sinn mehr gemacht, Erklärunge­n abzugeben.“

Die Akademiker­in arbeitet in der freien Wirtschaft und steht fest im Leben. Für Außenstehe­nde ist schwer nachvollzi­ehbar, warum sie nichts mehr mit ihren Eltern zu tun haben will. Es gab keine Gewalt und keinen Missbrauch, aber der Umgang innerhalb der Familie sei von Respektlos­igkeit geprägt gewesen, berichtet Mayer. Sie habe eigene Bedürfniss­e immer zurückstel­len müssen. Ein großer Teil ihres Lebens ist aber weiterhin durch die Trennung von ihren Eltern bestimmt.

Um sich mit anderen auszutausc­hen, hat sie in Nürnberg jetzt eine Selbsthilf­egruppe gegründet: „Gegangene Kinder“. „Für Eltern gibt es unglaublic­h viele Gruppen, aber nicht für die Kinder“, sagt Mayer. Im September war das erste Treffen. Es sei schön gewesen, sich mit anderen austausche­n zu können, die die Situation wirklich nachvollzi­ehen könnten, sagt sie. „Meistens entscheide­n sich Kinder im Alter zwischen 20 und 50 Jahren zu diesem Schritt“, erzählt Mayer. Sie selbst ist um die 30.

Wenn der Sohn oder die Tochter das Bedürfnis hat, sich komplett zu lösen, verstehen Eltern meist die Welt nicht mehr: Sie haben doch alles für ihr Kind getan, glauben viele. Doch den Kindern geht es offenbar besser, wenn sie keinen Kontakt haben – auch wenn sie unter der Trennung leiden.

Psychother­apeut Rainer Ewe aus Laufen an der Salzach betont, dass neben körperlich­er Gewalt vor allem übertriebe­ne Liebe und psychische Enge wichtige Gründe für einen Kontaktabb­ruch seien. Mit dem Kontaktabb­ruch wolle das Kind sich dem elterliche­n Einfluss entziehen, sich nicht mehr rechtferti­gen und erklären zu müssen, erklärt Ewe. Manchmal sei Rache ein Motiv, aber eher selten. Der Therapeut weiß auch: Die Eltern leiden meist sehr unter dem Verlust und der Unerklärli­chkeit des Verhaltens.

„Im Prinzip ist das eine späte Pubertät“, sagt Juliane Mayer. Es gehe darum, sich abzunabeln. Kinder entscheide­n sich nicht leichtfert­ig dazu, ihre Eltern nicht mehr zu sehen, davon ist sie überzeugt: „Es ist ja wichtig, eine Familie zu haben.“

Fehlende Kommunikat­ion Vor allem Ereignisse wie der Tod der Eltern, das Verhältnis zu den Geschwiste­rn, Enkelkinde­r, Hochzeiten und die dazugehöri­gen Fragen wie Erben und Unterhalts­pflicht belasteten schwer, berichtet sie. „Für mich ist die Vorstellun­g schlimm, dass meine Eltern sterben könnten, während wir keinen Kontakt hatten und ich mich nicht verabschie­den konnte“, sagt sie. „An Weihnachte­n oder an Geburtstag­en ist man auch eher allein.“Aber viele Freunde hätten ihr speziell an Weihnachte­n die Hand gereicht und sie eingeladen.

Auch die Therapeuti­n Claudia Haarmann weiß durch ihre Arbeit, wie sehr Kinder leiden, die den Kontakt zu ihren Eltern abgebroche­n haben: „Die Kinder lieben ihre Eltern.“Eine junge Frau habe zu ihr gesagt, dass es ihr „bis in die Zellen“wehtue.

Die Gründe, warum sie trotzdem keinen Kontakt mehr wollen, sieht sie vor allem in fehlender Kommunikat­ion: „In den Familien, in denen es kein Gefühl von Sicherheit und Halt gibt, kommt es am häufigsten zu Kontaktabb­rüchen, weil die Bindungen so zerbrechli­ch sind“, sagt Haarmann. Sie beschreibt die Situation als ein Thema, das mehrere Generation­en umfasst: Die Eltern geben die erlernten Bindungsmu­ster an ihre Kinder weiter, auch wenn ihnen selbst schon was gefehlt hat.

Haarmann hat ein Buch über den Kontaktabb­ruch geschriebe­n und sieht in der großen Resonanz darauf ein Zeichen für die Wichtigkei­t dieses Themas. Ihrer Erfahrung nach nehmen Kinder, außer bei schweren Missbrauch­sfällen, vorsichtig den Kontakt wieder auf, wenn sie sich wieder stabilisie­rt hätten. „Es ist dann Sache der Eltern zuzuhören, damit es zu einer Annäherung kommen kann.“

Claudia Haarmann: Kontaktabb­ruch – Kinder und Eltern, die verstummen, Orlanda Verlag 2015, 19,50 Euro. Nähere Infos zur Selbsthilf­egruppe „Gegangene Kinder“unter: www.kiss-mfr.de

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FOTO: EPD Kontaktabb­rüche zwischen erwachsene­n Kindern und Eltern sind keine Seltenheit.

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