Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Not der Menschen in aller Welt hat konkrete Gesichter bekommen“
Kardinal Woelki über den Hass in den sozialen Netzwerken und eine europäische Lösung für die Flüchtlingskrise
BERLIN - Die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft führt zu einer Verbitterung der Menschen und entlädt sich im Hass gegen Migranten im Internet. Dennoch müsse Deutschland seine humanitären Pflichten erfüllen und die Integration von Flüchtlingen durch den Familiennachzug erleichtern. Das sagte Kardinal Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln, im Gespräch mit Rasmus Buchsteiner.
Weihnachten, das „Fest der Liebe“, liegt hinter uns. Doch in den sozialen Netzwerken bricht sich Hass Bahn. Woher kommt er? Nach meiner Wahrnehmung wirken dabei verschiedene Dinge zusammen. In der Bankenkrise etwa mussten wir erleben, wie manipulierbar und krisenanfällig das Finanzsystem ist. Oder auf dem Arbeitsmarkt: Bei uns sind zurzeit so viele Menschen beschäftigt wie seit Jahrzehnten nicht, aber darunter gibt es Menschen in prekären Jobs am Ende der sozialen Leiter, die trotz 50-Stunden-Woche am Monatsende gerade mal 1000 Euro nach Hause bringen. Das ist nicht gerecht, und so empfinden die Leute das auch. Deshalb fühlen sie sich im Stich gelassen und beteiligen sich auch immer weniger am politischen Leben, an Wahlen beispielsweise. In den Flüchtlingen schließlich hat die Not der Menschen in aller Welt, die sonst so weit weg schien, konkrete Gesichter bekommen. Welche Folgen hat das? All das befremdet manche Menschen und weckt Unsicherheit, Befürchtungen und Verlustängste: Was ist mit meinem Geld, meinem Arbeitsplatz, meiner Nachbarschaft, meiner Heimat? Die Welt gerät aus den Fugen – das hören wir in diesen Tagen immer wieder. Woher kommt Hilfe? Das verleitet manche dazu, die Dinge selbst lösen zu wollen und rechthaberisch aufzutreten. Leicht macht es ihnen die weltweite digitale Vernetzung, die uns zwar technisch verbindet, aber Anonymität und Fremdheit nicht aufhebt. Internet, Netzwerke oder auch Mails müssen dann als Ventil herhalten.
Werden Sie auch in E-Mails deshalb beschimpft, weil Sie für eine liberale Flüchtlingspolitik in Deutschland stehen? In der Flüchtlingspolitik habe ich von Anfang an vertreten: Asyl ist humanitäre Pflicht und ein Gebot unseres Grundgesetzes, aber mit dem Asylrecht kann man nicht Migration steuern. Wir brauchen also ein Einwanderungsgesetz. Und wir müssen dafür sorgen, dass Europa endlich eine Solidargemeinschaft wird, denn ein oder zwei Länder allein können diese Fragen unmöglich lösen. Das trifft auf Zustimmung und Ablehnung, entsprechend findet sich auch in meinem Postfach die ganze Bandbreite, von Ermutigung bis Beschimpfung, manchmal auch Hasstiraden der übelsten Sorte.
Sie haben sich für Familiennachzug von Flüchtlingen eingesetzt. Barmherzigkeit hat keine Obergrenze? Das ist keine Frage der Barmherzigkeit, sondern der Klugheit und nicht zuletzt ein Gebot unseres Grundgesetzes, das Ehe und Familie besonders schützt. Familiennachzug hilft, sozialen Sprengstoff zu vermeiden und den Frieden zu fördern. Auch die Integration gelingt leichter, wenn Flüchtlinge nicht in Sorge um ihre zurückgelassenen Angehörigen leben. Das vermindert auch die Gefahr, dass die Angehörigen lebensgefährliche illegale Fluchtwege benutzen, wenn sie legal nicht einreisen dürfen. Im Übrigen fliehen die meisten der weltweit zurzeit über 60 Millionen Flüchtlinge innerhalb ihres Landes oder in benachbarte Staaten, aus Syrien beispielsweise in den Libanon. Diese Staaten sind dadurch mit ungleich größeren Problemen konfrontiert als wir.