Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Gemeinsam einsam
Xavier Dolans bedrückendes Familiendrama: „Einfach das Ende der Welt“
Zur Weihnachtszeit kennen viele Menschen das Szenario: Die Familie kommt nach langer Zeit wieder einmal zusammen, doch wirklich rund läuft es nicht. Stattdessen brechen alte Konflikte und Streitereien wieder auf. Eine ähnliche Geschichte, wenn auch nicht zur Weihnachtszeit, greift Xavier Dolan mit „Einfach das Ende der Welt“auf, einem beklemmenden Familiendrama, für das er in Cannes den Großen Preis der Jury gewann.
Auch hier kommt die Familie nach langer Zeit wieder zusammen: Zwölf Jahre lang war Louis (Gaspard Ulliel) nicht zu Hause. Kein Wunder, dass seine Mutter in heller Aufregung ist. Auch seine Schwester, sein Bruder und dessen Ehefrau sind dabei, als Louis mit dem Taxi vorfährt.
Die Zuschauer wissen früh, dass Louis eine traurige Nachricht hat: Der junge Mann wird bald sterben. Er zögert aber, es seiner Familie mitzuteilen, und so legt sich schnell eine gedrückte Stimmung über den Film. Auch sonst tut es weh, dieser dysfunktionalen Familie zuzuschauen. Die Familienmitglieder leben sehr unterschiedliche Leben: Louis mit seinem schwulen Partner in der Stadt, die anderen seit Jahrzehnten in derselben Provinz.
Wieder fokussiert der kanadische Regisseur Xavier Dolan mit „Einfach das Ende der Welt“die Abgründe innerhalb einer Familie. Und wie schon in seinem Debüt „I killed my mother“oder dem gefeierten „Mommy“berührt dabei besonders die Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Sohn.
Trotzdem gelingt Dolan nicht die Intensität seiner früheren Werke. Dafür gibt es zu viele Einzelkonflikte, die jede Figur mit den anderen austrägt. Möglicherweise liegt das auch an der Theatervorlage, immerhin wirkt der gesamte Film über weite Strecken wie eine überzeichnete und forcierte Inszenierung auf einer Bühne.
Getragen wird diese kammerspielartige Tour de Force von den Hauptdarstellern: Léa Seydoux gibt die jüngere, verlorene Schwester, Nathalie Baye die einsame Mutter. Eine ungeheure, körperlich fast schon beängstigende Präsenz strahlt Vincent Cassel aus. Er spielt den machohaften älteren Bruder, der jederzeit zu explodieren droht – was gerade mit Marion Cotillard als dessen mäuschenhafter Ehefrau ein spannendes Zusammenspiel ergibt.
Einen starken Eindruck hinterlassen viele kleine Momente, mit denen Dolan seinen Charakteren Tiefe verleiht. Etwa wenn die beiden ungleichen Brüder allein im Auto unterwegs sind oder die Mutter und ihre Tochter beim Tanzen in der Küche unbeschwert zusammenfinden. Dazu gehören auch die Sequenzen, in denen sich Louis an seine erste Liebe als Teenager im Elternhaus erinnert. Wenn die von warmem Licht durchfluteten Bilder über die Leinwand zu schweben scheinen, strahlen sie eine wunderbar visuelle Kraft aus. (dpa)