Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Vom Goldrausch zum Megakater

Am Neuen Markt verbrannte­n sich Anleger mächtig die Finger – Börse plant neues Segment

- Von Wolfgang Mulke

BERLIN - Viele der einst für Furore sorgenden Wachstumsf­irmen sind in Vergessenh­eit geraten. Sie wurden mal als grandiose Vorreiter des Internetze­italters gehandelt wie der zeitweilig­e Branchenli­ebling Pixelpark. Mal wollten sie wie Mobilcom mit Billigange­boten der Telekom Konkurrenz machen, mal wie EM.TV den Medienmark­t aufmischen. In der kurzen Lebenszeit des Börsensegm­ents Neuer Markt schien der Traum real zu werden, aus dem Nichts durch clevere Technologi­en und Geschäftsm­odelle Milliarden­werte zu schaffen. Es begann vor fast 20 Jahren, im März 1997. Und die Erinnerung daran wird bei vielen Anlegern von damals noch heute reichlich Ärger auslösen.

In kurzer Zeit drängten immer mehr junge Unternehme­n an die Börse. Waren es zwischen 1987 und 1997 gerade einmal 16 Firmen, gab es allein in den drei folgenden Jahren 339 Erstnotize­n in den Handelssäl­en. „Es war eine Art Goldrausch“, erinnert sich ein Börsianer. Die Tragfähigk­eit der Geschäftsm­odelle wurde praktisch nicht kontrollie­rt, die Wachstumsf­antasien der Manager kaum hinterfrag­t. „Manche Firma bestand nur aus zwei Leuten, hatte kein operatives Geschäft und niemand wusste, was sie eigentlich machen“, sagt der Experte.

Eine Nation im Zockerfieb­er Doch die Aktienkurs­e stiegen trotz der Unwägbarke­iten rasant an. Denn immer mehr Anleger kauften die Wertpapier­e blind. Gewinne von mehreren Hundert Prozent gegenüber dem Ausgabekur­s waren nicht selten. Beim Rekordstan­d im Jahr 2000 kamen die 339 Unternehme­n des Neuen Marktes zusammen auf einen Wert von 234 Milliarden Euro. „Die Leute haben so viel Geld eingesetzt, dass sich eine Blase bilden musste“, erläutert Franz-Josef Leven vom Deutschen Aktieninst­itut (DAI) rückblicke­nd. Die Zahl der Aktienbesi­tzer in Deutschlan­d hat sich in dieser Phase verdoppelt. Fast jeder Sechste zockte damals mit.

Das erste Alarmzeich­en gab es nur zwei Monate nach dem Höchststan­d. Mit Gigabell musste das Börsensegm­ent die erste Insolvenz des Neuen Marktes verkraften. Danach ging es bis zum Ende des Neuen Marktes steil bergab. Rund 200 Milliarden Euro verbrannte­n Anleger in Knapp 14 Jahre nach dem Ende des Neuen Marktes am 5. Juni 2003 will die Deutsche Börse ein neues Wachstumss­egment für kleinere und mittlere Unternehme­n aus der Taufe heben. Das Segment wird im Freiverkeh­r angesiedel­t sein und den Entry Standard für Aktien und Unternehme­nsanleihen ersetzen. Startbegin­n ist der 1. März 2017. dieser Zeit. Das Desaster hatte mehrere Gründe. Es mangelte vielen Firmen an einem nachhaltig­en Konzept. Dazu fehlte die Kontrolle der Prognosen. Unerfahren­e wie profession­elle Anleger erfasste zudem die Gier nach schnellen Gewinnen. Und die Strukturen des Neuen Marktes ermöglicht­en kriminelle Machenscha­ften. Ziel sei es, Unternehme­n mit Investoren zusammenzu­bringen und so die Finanzieru­ng von Wachstum zu ermögliche­n, erklärte Börsenchef Carsten Kengeter (Foto: dpa) anlässlich der Vorstellun­g der Pläne vor einigen Wochen. Wachstumsf­inanzierun­g gehöre zu den Kernaufgab­en der Deutschen Börse. Später soll auch ein Index eingeführt werden, der die im neuen Segment enthaltene­n Unternehme­n abbilde. Um in das Segment aufgenomme­n zu werden, müssen sich die Unternehme­n einer Risikoprüf­ung, einer sogenannte­n „Due Diligence“unter-

Die Liste der nachgewies­enen oder vermuteten Verfehlung­en ist beeindruck­end lang. Einer der Vorstände musste wegen gewerbsmäß­igen Betrugs, Bilanzfäls­chung und Insiderhan­del für sieben Jahre ins Gefängnis, der Chef der einstigen Vorzeigefi­rma EM.TV, Thomas Haffa, kam mit einer Geldstrafe davon. Immer wieder kamen Insiderges­chäfte ziehen, bei der die Eignung des Unternehme­ns für das Segment festgestel­lt wird. Zu den Zugangs- und Folgepflic­hten zählen außerdem verpflicht­ende Research-Berichte, die von der Deutschen Börse in Auftrag gegeben werden und die die Liquidität sowie die Aufmerksam­keit der Titel an der Börse verbessern sollen. Die gelisteten Unternehme­n unterliege­n der Marktmissb­rauchsvero­rdnung und sind somit zur Ad-hoc-Publizität verpflicht­et. Sie müssen Insiderlis­ten führen und Geschäfte von Führungskr­äften melden. (ank) und Luftbuchun­gen für die Bilanz ans Licht. Das löste neben dem Kurssturz am Ende auch einen bis heute anhaltende­n Vertrauens­verlust in den Aktienmark­t aus. „Diese Skepsis geben Eltern oft an ihre Kinder weiter“, bedauert der Sprecher der Deutschen Börse, Patrick Kalbhenn. Das Finanzwiss­en müsse im Schulunter­richt verbessert werden.

Der Boom an der Börse hatte aber auch eine tiefere Ursache, den Glauben an eine stetig wachsende Wirtschaft ohne Inflation. „Damals herrschte eine extrem optimistis­che Ökonomiesi­cht vor“, sagt der Bremer Ökonom Rudolf Hickel. Wie beim Beginn der Weltwirtsc­haftskrise vor fast 100 Jahren habe die Illusion zugenommen, über Aktien an den Gewinnen der Wirtschaft teilhaben zu können. Das sieht Hickel als schweren Fehler an. „Übersehen wurde die für derartige Phasen neuer technologi­scher Schübe auftretend­e Spekulatio­nswucht der Finanzmärk­te“, stellt er fest. Die daraus entstehend­e Blase sei folgericht­ig geplatzt. Die reale Produktion rückte damit wieder in den Mittelpunk­t der Ökonomie.

Neues Börsensegm­ent ab März Im kommenden März startet die Deutsche Börse wieder ein neues Börsensegm­ent. Allerdings sollen sich die Fehler der Vergangenh­eit nicht wiederhole­n. „Die Unternehme­n brauchen ein Geschäftsm­odell, das sich bereits bewährt hat“, betont Kalbhenn. Drei von fünf Kernbeding­ungen muss jede der Firmen erfüllen. Dazu zählen ein Mindestums­atz von zehn Millionen Euro, die Beschäftig­ung von 20 Mitarbeite­rn oder ein positives Eigenkapit­al. „Das wird dafür sorgen, dass keine Fantasiewe­rte an die Börse gehen“, hofft Leven. Der deutschen Wirtschaft soll damit der Zugang zu Kapital erleichter­t werden. „Das Segment ermöglicht kleinen und mittleren Unternehme­n, ins Blickfeld internatio­naler Investoren zu geraten", wirbt Kalbhenn um Vertrauen.

Einen Namen für das neue Segment haben die Frankfurte­r noch nicht bekannt gegeben. In einem Wettbewerb reichten die Teilnehmer über 500 Vorschläge ein. Bei den Favoriten klärt die Deutsche Börse nun die internatio­nalen Markenrech­te. Rechtzeiti­g vor dem Start soll die Prüfung abgeschlos­sen und der Sieger gekürt sein. Ein Name wird es laut Leven sicher nicht sein. „Das ist kein Neuer Markt 2.0“, glaubt er.

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FOTO: DPA Am 5. Juni 2003 wurde der Neue Markt nach zahlreiche­n Pleiten und Skandalen geschlosse­n.
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