Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Opfer auch aus Deutschland
IS bekennt sich zum Istanbul-Anschlag – Fahndung läuft
LANDSBERG AM LECH (AFP) - Bei dem Anschlag auf den Nachtclub „Reina“in Istanbul sind auch zwei Männer aus Bayern getötet worden. Nach Angaben eines Sprechers der Stadt Landsberg am Lech vom Montag handelt es sich um einen 28-Jährigen aus Landsberg und einen etwa drei Jahre jüngeren Mann aus Kaufering. „Wir gehen davon aus, dass zwei Todesopfer ihren Wohnsitz in Deutschland hatten“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts in Berlin. Eines der Opfer sei nach bisherigen Erkenntnissen Deutscher, das andere türkischer Staatsbürger. Zudem seien bei dem Anschlag drei Deutsche verletzt worden, sie seien aber außer Lebensgefahr.
Unter den 39 Toten des Anschlags in der Silvesternacht sind viele Ausländer. Die türkische Polizei fahndet mit einem Großaufgebot nach dem Täter. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hat sich zum Anschlag bekannt.
ISTANBUL - Nach dem Anschlag auf den „Reina“-Nachtclub in Istanbul macht sich bei vielen Türken angesichts der andauernden Gewaltwelle in ihrem Land Verzweiflung breit. „Überleben ist reine Glückssache“, meinte ein Istanbuler Musiker am Montag. Ein Finanzmanager sagte, er fühle sich durch die Ereignisse des Wochenendes in seinem Vorhaben bestärkt, die Türkei zu verlassen: „Ich kann es nicht erwarten, herauszukommen“, sagte der Familienvater.
Schon vor dem Bekenntnis des Islamischen Staates (IS) zu der Gewalttat im „Reina“waren die meisten Türken davon ausgegangen, dass die Dschihadisten dieses Massaker auf dem Gewissen haben. Laut Medienberichten leerte der Täter binnen sieben Minuten sechs Magazine seines Schnellfeuergewehrs und feuerte insgesamt mehr als 180 Schüsse auf die wehrlosen Gäste des Nachtclubs ab. Viele der 39 Opfer seien mit Kopfschüssen getötet worden, hieß es. Dann warf der Mann die Waffe weg, zog seinen Mantel aus und machte sich im Chaos aus dem Staub.
Trotz einer Großfahndung und der Festnahme von acht mutmaßlichen Komplizen fehlte am Montag vom Angreifer jede Spur. Der Verdacht konzentriere sich auf einen Bürger Kirgisiens oder Usbekistans, meldeten die Medien. Die Zeitung „Hürriyet“berichtete, die Polizei gehe einem Hinweis nach, wonach der Gesuchte in der Hafenstadt Yalova, rund hundert Kilometer südlich von Istanbul, gesichtet worden sei.
Im Bekennerschreiben des IS rühmen sich die Extremisten mit dem Angriff auf den Club, „wo die Nazarener (Christen) ihr polytheistisches Fest feiern“. Ihr „heldenhafter Soldat“habe die „Feiern in Trauer umgewandelt“. Sollte es der Dschihadistenmiliz darum gegangen sein, die bereits zutiefst polarisierte türkische Gesellschaft noch weiter zu spalten, dann waren Zeitpunkt und Ort des Anschlags geschickt gewählt. Silvester feiert vor allem eine säkulare Oberschicht, die in der Türkei immer stärker unter Druck gerät. Und der Nachtclub „Reina“ist aus Sicht konservativer Gläubiger ein Sündenpfuhl.
Konservative Kreise machen seit Längerem Stimmung gegen westliche Der türkische Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus hält eine Verlängerung des Ausnahmezustands für möglich. „Der Ausnahmezustand wird so lange dauern wie nötig“, sagte er am Montag in Ankara. Der nach dem Putschversuch vom 15. Juli verhängte Ausnahmezustand war im Oktober um 90 Tage verlängert worden und läuft in der Nacht vom 16. auf den 17. Januar 2017 aus. Während des Ausnahmezustands kann Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan weitgehend per Dekret durchregieren. Die Dekrete müssen vom Parlament nur im Nachhinein abgenickt werden. Die türkische Führung macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den gescheiterten Putsch verantwortlich. (dpa) Bräuche. Am Tag vor dem Angriff ließ die Religionsbehörde Diyanet in Moscheen eine Predigt verlesen, in der die Feiern zum Neujahrsfest unislamisch und mit „unseren Werten“nicht vereinbar genannt wurden.
Diyanet-Chef Mehmet Görmez sah sich nach dem Massaker im „Reina“dazu genötigt, eine Pressemitteilung herauszugeben. Sicherheitshalber stellt er darin klar, dass ein Angriff auf einen Nachtclub nicht weniger schwer wiegt als auf eine Moschee. „Es macht keinen Unterschied, ob diese barbarische Tat in einem Basar oder in einem Gotteshaus oder an einem Ort der Unterhaltung ausgeführt wird“, ließ Görmez verlauten.
Klage wegen Volksverhetzung Die Regierungsgegner wehren sich gegen die Tendenz des Staates, religiöser Intoleranz Vorschub zu leisten. Einige säkularistische Gruppen reichten Klage wegen Volksverhetzung gegen das staatliche Religionsamt ein. Mithat Sancar, ein Staatsrechtler und Parlamentsabgeordneter der Kurdenpartei HDP, sprach in der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“von einer Allgegenwart von „Diskriminierungsund Hassparolen“. Dagegen werde nichts unternommen – doch gleichzeitig kämen Journalisten wegen einer einzigen kritischen TwitterErklärung ins Gefängnis.
Nach dem Tod von zwölf deutschen Touristen bei dem IS-Anschlag in der Istanbuler Altstadt vor einem Jahr, einem Selbstmordattentat auf einer Einkaufsstraße im März und dem Anschlag auf den Istanbuler Flughafen im Juni war die Bluttat im „Reina“die vierte schwere Gewalttat der Extremisten in der türkischen Metropole binnen eines Jahres. Mehrere Medien meldeten, weitere IS-Angriffe seien zu befürchten. Die Dschihadisten hätten Bilder veröffentlicht, auf denen bewaffnete Kämpfer vor der Istanbuler Universität und einer der drei Bosporusbrücken zu sehen seien.
Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdogan sehen die Gefahr für die Türkei allerdings nicht beim IS, sondern im Westen. Regierungsnahe Zeitungen werteten den Anschlag im „Reina“als Teil eines Plans ausländischer Akteure, um die Türkei auf die Knie zu zwingen. „Der Hauptverdächtige ist Amerika“, titelte die islamistische Zeitung „Yeni Akit“.