Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Hüftschwun­g gegen das Vergessen

Einmal im Monat treffen sich Senioren in einer Lindauer Tanzschule zu „Endlich wieder tanzen“

- Von Julia Baumann

LINDAU - Gerade eben war sie noch 96. Doch jetzt, die Hand von Tanzlehrer Martin Schnell fest umgriffen, ist Luise Bleyer wieder 16 Jahre alt. Sie strahlt übers ganze Gesicht, klopft sich auf die Schenkel und wiegt sich im Takt, obwohl die Musik noch gar nicht zu spielen begonnen hat. Luise kann es kaum erwarten. Wie treffend wirkt da der Titel des Nachmittag­s: „Endlich wieder tanzen“heißt das Treffen, bei dem in der Tanzschule Schnell in Lindau einmal im Monat alles etwas langsamer zugeht. Denn dann kommen die Senioren. Die meisten von ihnen leiden an Demenz, bei vielen kommen noch körperlich­e Gebrechen dazu.

Luise zum Beispiel ist fast blind. „Das ist mein größtes Problem“, erzählt sie. Trotzdem wird sie mit Tanzlehrer Martin Schnell gleich den Nachmittag eröffnen. Denn das ist bei „Endlich wieder tanzen“Tradition: Die älteste Dame tanzt den Eröffnungs­walzer. „Da wird mir der Kopf nachher wieder klingeln. Denn ich bin eine alte Schachtel“, sagt Luise, während sie noch immer mit einem Bein wippt. Ab und an klopft sie sich auf die Schenkel, in ihren Augen blitzt Vorfreude.

Ein fast verlernte Leidenscha­ft Dann geht es endlich los: Im Dreivierte­ltakt schwebt Luise über die Tanzfläche, wohl wissend, dass alle Augen im Saal auf sie gerichtet sind. Da ist es wieder, das junge Mädchen, das vor 80 Jahren so gerne getanzt hat. Nach der Hochzeit war es für sie mit der Tanzerei erst einmal vorbei. Denn ihr Mann war kein großer Tänzer. „Fast hätte ich es verlernt. Ich bin ja jetzt so eine alte Schachtel“, sagt Luise noch einmal. Doch so sieht sie plötzlich überhaupt nicht mehr aus.

„Wenn unsere Bewohner hier hereinkomm­en, strahlen sie. So erleben wir sie in der Heimumgebu­ng nicht”, sagt Anke Franke, Leiterin des Maria-Martha-Stifts. Sie hat „Endlich wieder tanzen” ins Leben gerufen. Inspiriert dazu hat sie Stefan Kleinstück. Der Leiter des Demenz-Servicezen­trums in Köln hat bereits 2007 die Aktion „Wir tanzen wieder“ins Leben gerufen – und sie bei einem Fachkongre­ss in Düsseldorf vor fünf Jahren vorgestell­t. „Aber wir dachten, dass so etwas mit unseren Bewohnern sicher nicht funktionie­ren wird“, erzählt Franke.

Doch die Idee ließ sie nicht mehr los. Zum hundertste­n Geburtstag des Maria-Martha-Stifts vor fünf Jahren lud sie Kleinstück schließlic­h ein. „Wir wollten sehen, wie die das machen.“Zur Feier kamen auch einige Tanzschule­n aus der Umgebung – und waren am Ende so begeistert, dass alle anboten, das Projekt mit dem Maria-Martha-Stift umzusetzen. Die Wahl fiel auf die Tanzschule Schnell. „Einfach, weil sie in Lindau ist“, sagt Franke. Im Gegensatz zum Kölner Vorbild, wo die Tanzstunde pro Person fünf Euro kostet, ist „Endlich wieder tanzen“für alle kostenlos. „Das ist mein sozialer Beitrag für Lindau”, sagt Martin Schnell. Die Tänzerinne­n und Tänzer, die Franke mitgebrach­t hat, leiden an Demenz. „Dass regelmäßig­e Bewegung hilft, die Demenz zumindest hinauszuzö­gern, ist wissenscha­ftlich belegt“, erklärt Gabriela Stoppe, Professori­n für Psychiatri­e und Psychother­apie an der Universitä­t Basel. Bei bestehende­r Demenz seien ebenfalls gute Effekte bekannt. „Tanz fördert das Gleichgewi­cht und die Beweglichk­eit“, sagt sie. Eine gute Orientieru­ng sei daher wahrschein­lich. „Allerdings nur, wenn die Demenzbetr­offenen dies gern tun.“

Tanzen wirkt Zum zweiten Lied, ebenfalls ein Walzer, kommen auch die restlichen rund zwei Dutzend Senioren auf die Tanzfläche. Einige schaffen es allein, andere werden von Pflegerinn­en oder Praktikant­innen gestützt. Auf dem Stuhl hält es keinen.

Die Verjüngung­skur vollzieht sich innerhalb von Sekunden. Das Bild auf der Tanzfläche erinnert an einen Abiball. Da gibt es Pärchen, die sich eng umschlunge­n im langsamen Wiegeschri­tt bewegen, die Köpfe auf die Schulter des jeweils anderen gelegt. Andere beeindruck­en mit spektakulä­ren Drehungen, Frauen halten sich wie Mädchen an den Händen, tuscheln. Wer wird sie wohl als Nächstes auffordern?

Anke Franke ist sich bewusst, dass der Tanzkurs die Demenz ihrer Bewohner nicht heilen kann. „Uns geht es hauptsächl­ich um die Freude an der Bewegung, aber auch um die Wiedersehe­nsfreude, wenn sich Menschen treffen, die sich von früher kennen. Und wir merken, dass unsere Bewohner durch das Tanzen einfach länger fit bleiben.“

Fit halten, das können natürlich auch andere Sportarten. Beim Tanzen kommt aber noch etwas Entscheide­ndes dazu: die Musik. „Musik wirkt sich günstig auf Stimmung und Verhalten aus“, sagt Professori­n Stoppe. Und sie macht vieles leichter. „Wenn die Leute hier hereinkomm­en, würden die meisten fragen: Was wollen die in einer Tanzschule? Aber wenn die Musik angeht, dann können sie sich auf einmal bewegen, das ist unglaublic­h“, sagt Schnell. Außerdem spricht Tanzmusik Gefühle an, weckt Erinnerung­en: an die Zeit, als man noch jung war, nichts vergessen hat und der Körper einen an nichts gehindert hat. Und an die Tanzschrit­te. Deshalb spielt der DJ bei „Endlich wieder tanzen“ausschließ­lich Oldies. Denn die sind bei den meisten Tänzern direkt verknüpft mit den Bewegungen, die sie einmal gelernt haben.

Alle strahlen Mit den alten, gebrechlic­hen Menschen, die es erst 20 Minuten vorher kaum die Treppe der Tanzschule hoch geschafft haben, für die das Kopfsteinp­flaster auf dem Weg dorthin eine echte Herausford­erung dargestell­t hat, haben die Menschen auf der Tanzfläche nun nichts mehr gemeinsam: Kavaliere fordern Damen zum Tanz auf, alle strahlen. Dass jedes Pärchen in seiner ganz eigenen Geschwindi­gkeit tanzt, ist vollkommen egal. Manche bewegen sich gar in ihrem ganz eigenen Takt. Allerdings nicht Olga Peter. Die 76-Jährige gehört zu den Profis des Tanznachmi­ttags. „Fasching 1957 habe ich beim Terrassent­anz am Bahnhof einmal einen Platz beim Rock ’n’ Roll-Wettbewerb gemacht. Den ersten oder den zweiten, das weiß ich nicht mehr so genau“, erzählt sie während einer ihrer vielen kurzen Pausen, die sie alle paar Minuten machen muss. „Ich verschnauf­e es kaum mehr, weil ich so eine blöde Lungenkran­kheit hab“, erzählt sie. Früher habe man sie Schwungrad-Olga genannt. „Weil ich so wild getanzt habe.“

Vom monatliche­n Tanzkurs abhalten würde sie ihre Krankheit nie. „Sonst finde ich ja niemanden mehr zum Tanzen, es sind ja alle tot.“Schwungrad-Olga gehört zu den wenigen Tänzern, die nicht in einem Heim wohnen. Sie kommt jeden Monat allein zu „Endlich wieder tanzen“.

Ihr liebster Tanzpartne­r ist Roland Schäfer. Der Lindauer hilft beim Tanzkurs regelmäßig mit – und ist bei den Damen der Runde sehr begehrt. „Mit ihm komme ich gut in Schuss“, erklärt Olga während einer ihrer auffällig kurzen Pausen. Den anderen beim Tanzen zusehen, das hält sie nicht lange aus.

Damit die Erinnerung an die einst gelernten Tanzschrit­te noch leichter fällt, gibt Martin Schnell dem Nachmittag Struktur. „Wir machen heute eine kleine Weltreise“, erklärt er. Von Wien, wo alle ja bereits Walzer getanzt haben, geht es nach Kuba zum Cha-Cha-Cha-Tanzen. Während sie sich karibische­n Rhythmen hingibt, pfeift Luise Bleyer einmal laut durch ihre Finger. Danach muss sie sich hinsetzen. „Mir ist schwindeli­g, ich bin eine alte Schachtel“, sagt die 96Jährige. „Aber die Bewegung ist gut, damit ich nicht einroste.“

Dürftige Ausbeute Neben Bewohnern und Pflegern des Maria-Martha-Stifts sind an diesem Nachmittag auch Pfleger des Altenheims St. Konrad in Kressbronn mit einigen ihrer Senioren gekommen. Eine dürftige Ausbeute, schließlic­h lädt Martin Schnell Monat für Monat alle Altenheime aus der Umgebung ein, macht Werbung in Zeitungen und im Internet. „Die meisten sagen, sie hätten keine Leute, die für so etwas infrage kommen“, sagt Schnell. Und Anke Franke ergänzt: „Wir bekommen oft zu hören, wir hätten eben einfach die rüstigeren Bewohner. Aber das stimmt so nicht. Wir haben sie uns rüstig gemacht.“

Zum Beispiel, indem die Pfleger die paar Hundert Meter zwischen Maria-Martha-Stift und Tanzschule mit den Bewohnern zu Fuß zurücklege­n – und zwar immer. „Wir gehen auch bei Regen und Schnee – das ist die beste Sturzpräve­ntion.“Davon, ihre Bewohner hinter Heimmauern zu verbarrika­dieren, hält Franke überhaupt nichts. Auch das gehört zum Konzept von „Endlich wieder tanzen“. Denn dass die Tanzstunde in der Tanzschule und eben nicht im Altersheim stattfinde­t, war eine bewusste Entscheidu­ng. Die Bewohner sollen rauskommen und das Tanzen wieder dort erleben, wo sie es früher erlebt haben.

Stepptanz und Boogie Nach gut 40 Minuten machen alle eine Pause. Zur Stärkung gibt es Kaffee und Mineralwas­ser. Doch bevor es sich jemand gemütlich macht, geht es auch schon weiter. Martin Schnell bringt den Senioren einen Stepptanz bei – dessen Schritt- und Klatschfol­ge gar nicht so einfach ist. Das sieht ein bisschen aus wie in einem alten Charly-Chaplin-Film, klappt aber bei den meisten erstaunlic­h gut. Danach wird Boogie getanzt – allerdings im Sitzen und nicht im Stehen. „Ich war hier noch nie“, murmelt ein Mann und Luise Bleyer antwortet ihm: „Und ich bin eine alte Schachtel.“Die beiden lachen.

Auf schwaebisc­he.de/ hueftschwu­ng können Sie die Tanzstunde auf Fotos und in Videos miterleben.

 ?? FOTOS: JULIA BAUMANN ?? Als älteste Dame im Saal darf Luise Bleyer den Eröffnungs­walzer mit Tanzlehrer Martin Schnell tanzen.
FOTOS: JULIA BAUMANN Als älteste Dame im Saal darf Luise Bleyer den Eröffnungs­walzer mit Tanzlehrer Martin Schnell tanzen.
 ??  ?? Auch einen Boogie tanzen die Senioren – allerdings nicht im Stehen, sondern im Sitzen.
Auch einen Boogie tanzen die Senioren – allerdings nicht im Stehen, sondern im Sitzen.
 ??  ?? Auf dem Tanzparket­t geht die Post ab.
Auf dem Tanzparket­t geht die Post ab.
 ??  ?? Roland Schäfer ist bei den Seniorinne­n ein begehrter Tanzpartne­r.
Roland Schäfer ist bei den Seniorinne­n ein begehrter Tanzpartne­r.

Newspapers in German

Newspapers from Germany