Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Baden-Württemberg versus Ernst Hermann Maier
Das Land liegt in einem bizarren Rechtsstreit mit einem Bauern – Es geht um Ohrmarken bei Rindern
Während in Ostdorf bei Balingen 280 Rindviecher gemächlich über die Weiden trotten, sitzt der 74 Jahre alte Herdenvater Ernst Hermann Maier im Verwaltungsgericht Sigmaringen, weil den Tieren etwas fehlt. Die Rinder sind nicht etwa krank. Im Gegenteil, es geht ihnen bestens, allein schon weil sie in Mutterkuhhaltung vollkommen frei und im natürlichen Herdenverband unter freiem Himmel leben dürfen. Nein, was ihnen abgeht sind Ohrmarken, die Kälbern zum Zwecke ihrer Registrierung innerhalb von sieben Tagen nach der Geburt mit einer Zange ohne Betäubung in die Ohren gestanzt werden müssen. So jedenfalls steht es in der „Verordnung zum Schutz gegen die Verschleppung von Tierseuchen im Viehverkehr“.
Ernst Hermann Maier sagt, er habe in der Vergangenheit Verordnungen immer aus der Perspektive des Tierwohls beurteilt. Ein Gewöhnlicher ist er sicher nicht: Auf der hochgewachsenen Statur sitzt ein stolzer Kopf. Die Haut ist durchfurcht und zerklüftet. Man sieht dem 74-Jährigen an, dass die Vergangenheit für ihn kein Spaziergang war. Zum Beispiel als er 13 Jahre lang mit Behörden, Landratsämtern, Ministerien und vor Gerichten darum gerungen hat, die Tiere direkt auf dem Feld mittels Gewehr betäuben und in einer von ihm entwickelten Schlachtbox am Feldrand verarbeiten zu dürfen. Um Transporte, Stress und tierische Todesangst zu vermeiden, so der Landwirt. Der darüber nicht nur sein Eheglück, sondern auch den Glauben an die Menschheit zeitweise verloren hat. Und natürlich sprichwörtlich auch den letzten Pfennig.
Insofern muss ihm der 25. Oktober 2016 vor dem Verwaltungsgericht sehr vertraut vorgekommen sein. Es war ja nicht das erste Mal, dass der „Rinderflüsterer“(so der Titel eines von ihm verfassten Buches) vor einem Richter saß. Und es wird auch nicht das letzte Mal gewesen sein, weil das Land Baden-Württemberg das für den Bauern günstige Urteil in einer Berufung anfechten lassen will.
Heute wartet er auf ein neues Urteil des Verwaltungsgerichtshofes in Mannheim. Im Zusammenhang mit den Ohrmarken geht es um inzwischen fast 160 000 Euro gestrichene Agrarförderungen aus den Jahren 2012 bis 2016.
Nun verweigert die Familie Maier nicht die Tierregistrierung als solche, sondern lediglich die Methode. Sie pflanzt den Kälbern statt der Ohrmarken kleine TransponderChips unter die Haut. „Das ist sicherer, tut nicht weh und die Tiere können die Chips nicht verlieren oder sich daran verletzen“, argumentiert Maier. Bei Schafen und Pferden ist diese Art der Registrierung übrigens schon lange üblich. Maier und seine Tochter empfinden den vom Regierungspräsidium Tübingen ausgeübten Druck sowie die Streichung der Subventionen als reine Schikane. Denn: Paradoxerweise hat das Landratsamt Zollernalb die eingesetzte Chip-Technik zur Tierregistrierung bereits im Jahr 1999 in einem Schreiben als erlaubte Alternative zugelassen.
Ohrmarken im digitalen Zeitalter Landrat Günther-Martin Pauli (CDU) sagt dazu im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“: „Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir mitten im digitalen Zeitalter stehen, kann ich nicht nachvollziehen, warum die Chiplösung abgelehnt wird. Zumal die Transponder mindestens so sicher und effektiv wie die Ohrmarken wirken.“Außerdem seien ihm viele Fälle bekannt, wo Ohrmarken schmerzhafte Entzündungen verursacht hätten. Pauli ist überzeugt: „Man verkrampft sich auf die Buchstaben einer Verordnung, dabei ist Sinn und Zweck der Tierregistrierung mehr als erfüllt. Es ist mir schon sehr schleierhaft, warum die tierfreundlichen Transponder unter einer grün geführten Landesregierung nicht sein dürfen.“
Bis zum Jahr 2012 habe den Einsatz der Chips auch nie jemand beanstandet, erinnert sich Maier. Dem ein Jahr zuvor neu besetzten Landwirtschaftsministerium hat diese Praxis aber nicht gefallen. Das Regierungspräsidium – also der verlängerte Arm der Landesregierung – wies das Landratsamt Zollernalb an, die Ausnahmegenehmigung für Maier nicht wieder zu erteilen. Doch Landrat Günther-Martin Pauli hielt sich nicht daran. Danach zog das Regierungspräsidium die Angelegenheit komplett an sich, sodass der CDULandrat bis auf Weiteres kaltgestellt war und ist.
Leid gewohnt Doch Maiers Rinder tragen bis heute keine Ohrmarken. „Und ganz sicher auch in Zukunft nicht“, wie der Landwirt versichert. Das Regierungspräsidium wendet deshalb seit 2012 das scharfe Schwert der Einbehaltung von Fördermitteln an. Ernst Hermann Maier lässt sich davon nicht beeindrucken, denn: Es ist nicht das erste Mal, dass ihm das Wasser bis zum Hals steht. „Sie müssen wissen, dass ganz viele Landwirte ohne diese Unterstützung überhaupt nicht existieren können. Wir können das aber aushalten. Wir sind Leid gewohnt“, sagt Maier mit seiner knarzenden Stimme, die zwar bisweilen müde aber nie resigniert klingt.
Dabei hätte das Subventionsembargo mit der Verhandlung im Oktober beendet sein können – gab das Verwaltungsgericht den Maiers doch größtenteils recht. Die Richter folgen der Argumentation des Landes Baden-Württemberg nicht und erkennen in der Beibehaltung der Praxis mit den Chips statt der Ohrmarken keinen Rechtsverstoß. Warum aber hält das Land an seiner Sichtweise fest?
Auf Nachfrage teilt der Pressesprecher des Regierungspräsidiums, Daniel Hahn, schriftlich mit: „Geltendes EU-Recht sieht als Folge der BSE-Krise Anfang der 1990er-Jahre zwingend eine Ohrmarkenpflicht für Rinder vor, um die rasche Rückverfolgbarkeit von Tieren bei Seuchengeschehen sicherzustellen.“Darüber hinaus heißt es in der Antwort, dass „die Agrarförderung in der EU an klare rechtliche Voraussetzungen gebunden ist, die von den Antragstellern zu jedem Zeitpunkt einzuhalten sind. Ist dies nicht gegeben, haben die zuständigen Behörden keine andere Wahl, als die von der EU vorgegebenen Sanktionen umzusetzen“. Setze die zuständige Behörde das nicht um, so drohten Strafzahlungen an die EU in bis zu zweistelliger Millionenhöhe.
Ausnahmen sind möglich Dass es die Möglichkeit von Ausnahmegenehmigungen für Transponder-Chips durchaus gibt, verrät die Stellungnahme aus dem Regierungspräsidium nicht. Die entsprechende Verordnung enthält den Paragraf 45 „Tierhaltung in besonderen Fällen“. Er regelt die Tierregistrierung unter anderem in Zoos, Wildparks, Zirkussen und ähnlichen Einrichtungen und genehmigt ausdrücklich eine „andere Kennzeichnung, soweit deren jederzeitige Ablesbarkeit gewährleistet ist“, was auf die Verwendung der Transponder zutrifft. Dass Maiers keinen Wildpark betreibt, bestreitet er gar nicht. Aber seine Tiere werden nie verladen und transportiert, sondern sie werden auf dem Hofgut geboren, leben dort, werden dort direkt geschlachtet – und das Fleisch wird ab Hof verkauft.
Maier ist von der Rechtmäßigkeit seiner Art der Tierregistrierung überzeugt: „Es ist aus unserer Sicht genau umgekehrt. Das Kennzeichnungssystem mit Ohrmarken ist rechtswidrig, weil es die Vorgaben im Gesetz gar nicht erfüllt.“Laut Viehverkehrsverordnung muss das Kennzeichnungssystem „lebenslang unlösbar mit dem Tier verbunden und fälschungssicher sein“. Außerdem dürften dem Tier keine vermeidbaren Leiden und Schmerzen zugefügt werden. Und genau das sei nicht der Fall: Ohrmarken behinderten die Tiere, verursachten schmerzhafte Wunden, seien nicht fälschungssicher und fielen eben doch hin und wieder ab. Fakten genug für Maier, sie abzulehnen.
„Das ist sicherer, tut nicht weh und die Tiere können die Chips nicht verlieren oder sich daran verletzen.“Ernst Hermann Maier, warum er bei Kälbern Transponder-Chips den Ohrmarken vorzieht
Warum tun sich der Bund und die EU überhaupt so schwer, die moderne Registrierung mit Chips ohne Wenn und Aber eindeutig zu erlauben? Landrat Pauli kann sich dafür nur einen Grund denken: „Möglicherweise hat die Fleischindustrie starken Einfluss. Denn in einem Massenbetrieb kosten die Transponder, die unter der Haut verrutschen können, beim Auslesen mehr Zeit. Und Zeit ist Geld.“
Jetzt also geht der Streit um die Ohrmarken nach dem Einlegen der Berufung durch das Land in die nächste Instanz. Und damit das Zittern um das ausgebliebene wichtige Geld weiter. „Damit haben wir schon gerechnet. Das kann uns nicht umhauen“, sagt Maier trotzdem gelassen. Hinter ihm steht der Verein URIA, der sich für das Tierwohl einsetzt und andere Unterstützer, die bislang den Ruin der Maiers abwenden konnten.
Von den juristischen Stürmen, die Maier und seine Familie seit Jahren beuteln, bekommen die Rindviecher auf der Weide freilich nichts mit. Für sie ist es das Natürlichste von der Welt, keine Ohrmarken zu tragen, nicht in einem Stall eingesperrt zu sein und in der großen Herde auf einer Weide zu grasen. Sie leben im Idyll nachhaltiger und ökologischer Landwirtschaft. Mit unversehrten Ohren, auch gegen den Widerstand der Landesregierung.