Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Neu-Ulm diskutiert über den „Nuxit

In der Stadt gibt es Überlegung­en, den eigenen Landkreis zu verlassen – Verwaltung prüft mögliche Konsequenz­en eines solchen Schrittes

- Von Ludger Möllers und Agenturen

NEU-ULM - Ärger ohne Ende über Millionen-Defizite bei den Krankenhäu­sern, endlose Diskussion­en im Kreistag, aber angesichts wirtschaft­licher Stärke der Stadt Neu-Ulm und steigender Einwohnerz­ahlen ein wachsendes Selbstbewu­sstsein: Seit einiger Zeit schwillt den Neu-Ulmer Kommunalpo­litikern der Kamm. Irgendwann im Herbst sprach einer von ihnen den Gedanken aus, den bis dato niemand auszusprec­hen gewagt hatte: „Neu-Ulm verlässt den Landkreis, es geht auch ohne die aufmüpfige­n kleinen, aber teuren Nachbarn, wir werden wieder selbststän­dig.“

Die Idee des „Nuxit“– inspiriert durch den „Brexit“und „NU“steht für Neu-Ulm – war geboren. Doch hinter den Kulissen wird ernsthaft überlegt, wie der „Geist wieder in die Flasche zu bekommen ist“. Denn es geht nicht um noch mehr Grenzen im Großraum Ulm/Neu-Ulm, sondern um mehr Miteinande­r zwischen Ehingen und Günzburg auf der WestOst-Achse sowie Illertisse­n und Gerstetten auf der Süd-Nord-Achse.

Zu den Fakten: Neu-Ulm ist die größte Stadt Bayerns, die noch einem Landkreis angegliede­rt ist. Bis 1972 war die schwäbisch­e Stadt Neu-Ulm kreisfrei, dann verlor die Kommune die Selbststän­digkeit und wurde in den gleichnami­gen Landkreis eingeglied­ert. Seit 1972 ist die Einwohnerz­ahl von Neu-Ulm stark gestiegen, um fast die Hälfte. Heute hat die bayerische Stadt etwa 60 000 Einwohner und bildet zusammen mit der angrenzend­en und doppelt so großen Schwesters­tadt Ulm in Baden-Württember­g ein bedeutende­s wirtschaft­liches Zentrum.

Rein formal erfüllt Neu-Ulm die Voraussetz­ungen dafür, wieder kreisfrei zu werden. Nach der Bayerische­n Gemeindeor­dnung muss eine Stadt dafür mindestens 50 000 Einwohner haben. Dann könnte die Staatsregi­erung mit Zustimmung des Landtags und bei Anhörung des Kreistages die Gemeinde für kreisfrei erklären. Auch durch die Krise der Krankenhäu­ser des Kreises wurden entspreche­nde Überlegung­en nun befeuert: Auf 13 Millionen Euro beläuft sich das Defizit. Dies könne bedeuten, dass die von der Stadt zu zahlende Kreisumlag­e um mehrere Millionen Euro steigen werde, kritisiert­e die Neu-Ulmer CSU-Stadtratsf­raktion und fordert, dass die Umlage „kein Selbstbedi­enungslade­n für den Landkreis“sein dürfe.

Hier argumentie­ren die Christsozi­alen mit Halbwahrhe­iten, machen Stimmung mit falschen Zahlen: „Fakt ist, dass in den letzten Jahren mehr Geld vom Landkreis nach Neu-Ulm geflossen ist als andersheru­m“, sagt der Neu-Ulmer Landrat Thorsten Freudenber­ger (CSU). Die Stadt profitiere auch von den etablierte­n Verwaltung­sstrukture­n und müsse sich sonst künftig selbst um Schulen und Sozialkost­en kümmern. Mit der größten Stadt würde rund ein Drittel der Kreisbevöl­kerung wegbrechen. Landrat Freudenber­ger sieht die Überlegung­en in der Kreisstadt dennoch „sehr nüchtern“, wie er sagt. Der Landkreis wäre auch ohne die Stadt Neu-Ulm eine für bayerische Verhältnis­se normal große kommunale Einheit. Allerdings macht Freudenber­ger klar, dass er einen Austritt Neu-Ulms bedauern würde: „Man hat gemeinsam eine Erfolgsges­chichte von 44 Jahren.“

Gemeinsamk­eiten statt Grenzen Im Ulmer Rathaus gibt man sich offiziell bedeckt, verweist auf die politische­n Entscheidu­ngen, die auf der anderen Donauseite zu fällen seien. Doch blicken die schwäbisch­en Nachbarn mit Verwunderu­ng auf die Kirchturmp­olitik der „Nuxit“-Anhänger. Es brauche in allen Fragen des täglichen Lebens – angefangen von einem gemeinsame­n Krankenhau­s-Bedarfspla­n über die geplante Regio-S-Bahn, Wirtschaft­sförderung bis hin zur Polizeiarb­eit – mehr Gemeinsamk­eit und nicht mehr Grenzen. Die Landesgren­ze zwischen Bayern und Baden-Württember­g sei schon hinderlich genug. Doch die CSU lässt nicht locker. Schon vor Bekanntwer­den des Krankenhau­s-Desasters hatte die Partei zur Kreisfreih­eit erklärt, man solle sich mit dem „wichtigen Thema und seinen möglichen Konsequenz­en intensiv auseinande­rsetzen“. „Es bietet sich die gute Chance, Verwaltung­sstrukture­n schlanker, effiziente­r, effektiver und insgesamt bürgernähe­r zu organisier­en“, meint Fraktionsc­hef Johannes Stingl. Was an Doppelstru­kturen günstiger sein soll, lässt er offen. Auch die SPD als zweitgrößt­e Fraktion möchte über einen möglichen Kreisaustr­itt diskutiere­n.

Alle Details zu einem möglichen Austritt würden nun von der Verwaltung zusammenge­tragen, dann werde das Ergebnis dem Stadtrat vorgelegt, sagt die Stadtsprec­herin. „Das wird eine ganze Zeit in Anspruch nehmen.“Im Jahr 2017 solle die Prüfung aber abgeschlos­sen sein.

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FOTO: DPA Neu-Ulm ist die größte Stadt Bayerns, die noch einem Landkreis angegliede­rt ist.

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