Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Tödliches Feuerwasser
Russlands Regierungschef Putin will den Alkoholmissbrauch mit neuen Gesetzen angehen
BERLIN/MOSKAU (dpa) - Mehr als 75 Tote, Dutzende Verletzte und sechs Kinder, die zu Vollwaisen wurden: Das war vor dem Jahreswechsel die traurige Bilanz in der ostrussischen Stadt Irkutsk, weil dort mehr als 100 Einwohner alkoholhaltigen Badezusatz getrunken hatten. Die offiziell als Kosmetikprodukt ausgewiesene Flüssigkeit „Bojaryschnik“(„Weißdorn“) war illegal hergestellt und enthielt die hochgiftige Substanz Methanol.
Das Unglück in der sibirischen Großstadt, die rund 5000 Kilometer östlich von Moskau nahe dem Baikalsee liegt, sorgte landesweit für Entsetzen. Zuerst meldete sich Premierminister Dmitri Medwedew zu Wort, dann Kremlsprecher Dmitri Peskow, schließlich reagierte sogar Präsident Wladimir Putin. Er beauftragte die Regierung, neue Gesetze auszuarbeiten. Sie sollen den Missbrauch von hochprozentigem Alkohol eindämmen und die Nachfrage nach illegalem Alkoholersatz senken. Russische Medien bezeichneten die Vergiftungswelle als „Alptraum“und „Katastrophe“.
Doch auch wenn so viele Todesopfer auf einmal gerade in einer Großstadt wie Irkutsk eine Seltenheit darstellen: In Russland kommt es immer wieder zu tödlichen Unfällen durch illegal produzierten oder gepanschten Alkohol. Im größten Land der Welt wird viel getrunken; und wenn legaler Alkohol zu teuer ist, greifen viele Russen zu selbstgebranntem Wodka (Samogon), Parfüm oder Frostschutzmittel. Experten schätzen, dass mindestens zehn Millionen der 143 Millionen Menschen im Land regelmäßig sogenannte Ersatzalkohole konsumieren.
Russlands Machthaber haben in der Vergangenheit immer wieder versucht, das Alkoholproblem im Land in den Griff zu bekommen. Den wohl radikalsten Versuch unternahm in den 1980er-Jahren der damalige sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow mit seiner berühmten Anti-Alkohol-Kampagne.
Der „Mineralsekretär“(sowjetischer Spott) ließ Weinberge roden und Wodkafabriken schließen und scheiterte letztlich am erbitterten Widerstand der Bevölkerung. Denn ob bei Empfängen, Firmenfeiern oder Geburtstagen: Die klare, hochprozentige Flüssigkeit darf bei russischen Festen eben einfach nicht fehlen.
Einen neuen Anlauf zur Ausnüchterung der Bevölkerung nahm 2010 der damalige Präsident und jetzige Premierminister Dmitri Medwedew: Er führte einen Mindestpreis für Wodka ein, der aktuell bei 190 Rubel (gut 3 Euro) für einen halben Liter liegt. So sollte Panschern und Schwarzbrennern der Kampf angesagt werden.
Tatsächlich ist der Alkoholverbrauch seitdem deutlich gesunken: Rund 14 Liter reinen Alkohol schütteten die Russen damals pro Kopf jährlich in sich hinein, sechs Jahre später sind es laut dem Statistikamt Rosstat nur noch 6,6 Liter. Doch die Statistiken berücksichtigen nur legal erworbene und zum Verzehr vorgesehene Getränke. Experten warnten bereits damals, wegen des höheren Wodkapreises würden manche Russen sich wieder vermehrt mit illegalen Substanzen betrinken.
Auch nach dem Vorfall in Irkutsk werden Stimmen laut, die eine Senkung der Alkoholpreise fordern. Erst wenn sich jeder Russe für 100 Rubel (rund 1,50 Euro) legal im Geschäft eine Halbliterflasche Wodka kaufen könne, habe billiger Fusel keine Chance, schrieb etwa die Zeitung „Wedomosti“.
Noch ist nicht klar, in welche Richtung die von Putin angeordneten Gesetzesänderungen gehen werden. Neben schärferen Regeln für die Herstellung und den Vertrieb von spiritushaltigen Produkten und einer besseren Kennzeichnung soll jedenfalls auch eine Änderung der Alkoholsteuer in Betracht gezogen werden.