Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Vorurteile und Misstrauen

In Singen leben viele Jenische – Mit einem Fördervere­in kämpfen sie für ein eigenes Kulturzent­rum und gegen Ausgrenzun­g

- Von Kathrin Drinkuth

SINGEN (lsw) - Wer Alexander Flügler besucht, merkt sofort: Dem Mann sind Familie und Herkunft wichtig. Die Wände des Büros im Keller seines großen Wohnhauses sind übervoll mit Fotos. Flügler mit seiner Frau, Flügler mit seinen Kindern, Verwandte hier, Freunde dort, alte Menschen, junge Menschen, große und kleine lachen von der Wand. Und wenn man den Inhaber einer Reinigungs­firma aus Singen (Kreis Konstanz) fragt, wer er ist, sagt er erst mal: „Ein Jenischer.“Und danach: „Ein Singener und ein Unternehme­r.“

Die Antwort ist aus Flüglers Sicht nicht selbstvers­tändlich: Viele Angehörige der Jenischen outeten sich nicht, sagt der 59-Jährige. Sie hätten Angst vor Benachteil­igung: „Das merkst du geschäftli­ch und privat.“Denn die Jenischen seien nicht nur in der Vergangenh­eit immer wieder ausgegrenz­t und diskrimini­ert worden – auch heute herrschten ihnen gegenüber noch Vorurteile und Misstrauen.

Er erlebe das am eigenen Leib, sagt Flügler, der sich nach eigenen Angaben vom Fensterput­zer zum Unternehme­r hochgearbe­itet hat und inzwischen in einer Art Villa wohnt. „Bei mir heißt es auch: Wie kann ein Jenischer so ein Haus haben? Ich sage dann: Um fünf Uhr aufstehen und schaffen bis um acht.“

Doch wer die Jenischen sind, ist gar nicht so leicht zu beantworte­n. Auch die wissenscha­ftliche Deutung sei schwierig, sagt die Ethnologin Anna Lipphardt von der Universitä­t Freiburg. So seien die Jenischen zum Beispiel in der Schweiz als nationale Minderheit anerkannt, in Deutschlan­d aber nicht. Wie viele Jenische heute noch in Deutschlan­d leben – auch dazu gibt es nur Schätzunge­n. Die Bundesregi­erung spricht laut Flügler von 8000 Menschen, er geht von deutlich mehr aus.

Auch über die Herkunft der Gruppe gibt es viele Theorien. Was man weiß: Die Jenischen waren ursprüng- lich ein „fahrendes Volk“. Das spüre man heute noch, sagt Flügler. „Der Jenische will seine Freiheit.“Früher waren sie oft Korbmacher oder Scherensch­leifer. Berufe, die fast ausgestorb­en sind. Inzwischen seien viele Jenische sesshaft geworden – und ihre Geschichte und Herkunft sind den meisten Menschen gar nicht mehr bekannt. Dagegen will Alexander Flügler etwas unternehme­n: Ge- meinsam mit einem Fördervere­in will er ein eigenes Kulturzent­rum in Singen errichten. Denn in der Stadt mit knapp 47 000 Einwohnern leben zahlreiche Mitglieder der Gruppe. Und nicht immer klappt das Zusammenle­ben mit anderen gut. „Der Jenische tut sich schwer, sich an die Gesellscha­ft anzupassen“, sagt Flügler.

Viele Familien reisen nicht mehr Das kennt auch Ursula Garz. Die Leiterin einer Singener Förderschu­le hat bereits viele jenische Kinder unterricht­et. Derzeit liege ihr Anteil und derer der Sinti bei 25 Prozent. Viele Familien hätten das Reisen längst aufgegeben und lebten vom Jobcenter, sagt Garz. Trotzdem fehlten die Kinder in der Schule, machten oft keine Hausaufgab­en und hätten generell Schwierigk­eiten, sich im Klassengef­üge zu behaupten.

Die Idee des Kulturzent­rums unterstütz­t die Direktorin, die sich mit Flügler im Fördervere­in engagiert: Durch die Begegnung mit anderen Familien könnten die Kinder neue Wege kennenlern­en – und merken, dass nicht alle Jenischen von Hartz IV lebten. Das ist auch Teil von Flüglers Motivation: „Wir brauchen jenische Vorbilder.“Zugleich will er Ausstellun­gen in dem Zentrum organisier­en, Beratungen anbieten, die jenische Sprache vermitteln, Workshops auf die Beine stellen und beispielsw­eise Musikveran­staltungen möglich machen.

Im Singener Rathaus bleibt man bei den Plänen ein wenig verhalten: Ein früheres Konzept wurde vom Gemeindera­t verworfen, weil es zum einen zu weit außerhalb der Stadt lag, zum anderen störten sich die Räte an der Idee von zehn Wohneinhei­ten für Familien aus der Gruppe der Jenischen und der Sinti als festen Bestandtei­l des Projekts. Es bedürfe einer Neujustier­ung der verschiede­nen Bausteine, sagt ein Stadtsprec­her. „Diesen Prozess wird die Stadt Singen, wie in den vergangene­n Jahren, konstrukti­v begleiten.“

Im Mai plant der Fördervere­in ein jenisches Kulturfest in der Stadt. Wenn das gut laufe, stiegen auch die Chancen für ein Kulturzent­rum, sagt Flügler. Das sieht auch die Stadt so: Der Fördervere­in könne das Fest nutzen, um „den Gesprächsf­aden zu den Mitglieder­n des Gemeindera­tes wieder aufzunehme­n und für ein gemeinsame­s Beschreite­n des Weges zur Realisieru­ng einer Stätte der jenischen Kulturverm­ittlung zu werben“.

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FOTO: DPA Alexander Flügler in seinem Haus in Singen. Seine Vorfahren reisten noch mit Pferdewage­n, wie auf dem Foto zu sehen ist.

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