Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Koalition sucht kleinsten gemeinsamen Nenner
Nach dem Fall Amri überbieten sich SPD und CDU mit Ideen zur Stärkung der Inneren Sicherheit
BERLIN (dpa) - Der Berliner Weihnachtsmarkt-Attentäter Anis Amri ist als islamistischer Gefährder eingestuft gewesen. Solchen Extremisten trauen die Sicherheitsbehörden einen Anschlag zu. Doch trotz eines abgelehnten Asylantrags konnte der Radikalislamist nicht zurück in seine tunesische Heimat geschickt werden: Die Behörden dort stellten sich monatelang quer, die nötigen Ersatzpapiere auszustellen. So wurde es auch unmöglich, ihn in Abschiebehaft zu nehmen. Amri erhielt eine Duldung – und raste am 19. Dezember mit einem Lkw in einen Berliner Weihnachtsmarkt.
Nun wird bekannt: Unter den islamistischen Gefährdern in Deutschland sind 62, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Sie müssten Deutschland verlassen, sind de facto ausreisepflichtig, auch wenn dem Hürden wie bei Amri entgegenstehen.
Die Zahl ist Wasser auf die Mühlen derer, die auf eine schärfere Abschiebepraxis dringen. Ein Fall Amri darf sich nicht wiederholen. Das sehen auch die Parteien der großen Koalition so. Doch damit ist es mit dem Konsens in der Regierung auch schon fast vorbei, von Rufen nach mehr Videoüberwachung im öffentlichen Raum einmal abgesehen.
Rückblick: Das Attentat liegt gerade einmal zwölf Stunden zurück, da ruft CSU-Chef Horst Seehofer nach einer Neujustierung der Sicherheitsund Zuwanderungspolitik. Politiker anderer Parteien rümpfen die Nase, halten sich zurück. Doch mit dem Tod Amris durch Polizeikugeln in Italien ist es damit vorbei. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und Justizminister Heiko Maas (SPD) kündigen Konsequenzen an. Sie wollen darüber in dieser Woche beraten.
Drei Säulen des starken Staats Das Knallen der Silvesterböller ist gerade verhallt, da präsentiert SPDChef Sigmar Gabriel am 2. Januar ein Sicherheitskonzept. Auch ein Bewerbungsschreiben für die Kanzlerkandidatur, wie einige mutmaßen. Wenige Stunden darauf wird Gabriel übertönt: von de Maizières „Leitlinien für einen starken Staat in schwierigen Zeiten“. „Es braucht die Verbindung von Prävention, Stabilität in der Gesellschaft und der Arbeit von Polizei, Nachrichtendiensten und Justiz“, umschreibt Gabriel sein Konzept noch einmal im „Spiegel“. „Wer nur auf eine dieser drei Säulen setzt, wird verlieren.“Der Union wirft er vor, sich ausschließlich auf Gesetzesverschärfungen zu konzentrieren.
Manche Überlegungen de Maizières sind bekannt, Stichwort härtere Abschieberegeln. Doch sie gleichen einem Rundumschlag. Er macht Vorschläge, die an den Grundfesten der föderalen Ordnung rütteln, um den Sicherheitsapparat neu aufzustellen. Wohlwissend, dass sie kaum umzusetzen sind. Widerstand der Grünen im Bundesrat und auch aus den Ländern ist programmiert – auch an den vom Minister ins Spiel gebrachten Einsatzmöglichkeiten für die Bundeswehr im Inneren. Tatsächlich kommt umgehend heftiger Gegenwind. Die Länder fürchten eine Kompetenzbeschneidung in Fragen der Inneren Sicherheit. Am stärksten bläst es dem Innenminister ausgerechnet aus Bayern entgegen, dem CSU-Land. Dessen Vorsitzender Seehofer zementiert in den Tagen danach noch den anderen Streitpunkt: das Beharren auf einer Flüchtlings„Obergrenze“.
Konfliktlinien ziehen sich also zum Auftakt des Wahljahres quer durch die Union und auch durch die Koalition. Was ist dann noch gemeinsam hinzubekommen in Sicherheitsfragen? Die Koalition besteht nur noch rund neun Monate. Dann wird gewählt.
Dass etwas geschehen muss, ist allen Akteuren klar – auch mit Blick auf die AfD, die bei der Wahl den Einzug in den Bundestag schaffen könnte. Keiner dürfte sich im Wahljahr zudem dem Vorwurf aussetzen wollen, zu wenig gegen weitere Anschläge getan zu haben. Bei vielen Äußerungen klingt aber bereits der Wahlkampf-Modus durch. Letztlich scheint es wohl auf die kleinsten gemeinsamen Nenner hinauszulaufen: etwa die Möglichkeit, Gefährder leichter in Abschiebehaft zu nehmen, oder mehr Videoüberwachung.
Kurz vor seinem geplanten Treffen mit dem Justizminister macht de Maizière noch einmal Druck. Er wirft der SPD in Sicherheitsfragen mangelnde Kooperationsbereitschaft vor. Der Ball wird gleich zurückgespielt. „Da sich Herr de Maizière nicht einmal mit der CSU geeinigt hat, werden seine Vorschläge zu einer Strukturveränderung der Sicherheitsbehörden keine Rolle spielen“, sagt Maas.