Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Theresa May weist Kritik am Brexit-Chaos zurück

Bislang keine Strategie für britische Verhandlun­gen über einen EU-Austritt erkennbar – Londoner Regierung uneins

- Von Sebastian Borger und dpa

LONDON - Die britische Premiermin­isterin Theresa May wehrt sich gegen Vorwürfe, das Handeln ihrer Regierung bei den Brexit-Plänen sei chaotisch und inkonseque­nt. Sie wolle Details über ihre Ziele „in den kommenden Wochen“veröffentl­ichen, kündigte May am Sonntag in einem Interview des britischen Senders Sky News an. „Unser Denken ist nicht wirr.“Die Komplexitä­t der Themen habe aber Zeit gefordert.

Gut sechs Monate nach der Abstimmung über seine Zukunft in Europa bleibt Großbritan­nien nach den neuen Umfragen so gespalten wie an jenem 23. Juni, als 51,9 Prozent den Brexit befürworte­ten. Diese Uneinigkei­t scheint auch Mays Regierung zu lähmen. Noch im Januar will die konservati­ve Premiermin­isterin eine programmat­ische Brexit-Rede halten, so hat sie es im Dezember dem Verbindung­sausschuss des Unterhause­s versproche­n.

Hingegen mochte sie sich nicht darauf festlegen, das Parlament werde über den Deal mit Brüssel abstimmen dürfen. Damit steht May jedoch im Widerspruc­h zu ihrem Brexit-Minister David Davis: Der hält es für „undenkbar“, dass zwar das Europaparl­ament - wie vom Lissabon-Vertrag festgelegt - ein Votum erhalten soll, nicht aber die in Westminste­r versammelt­en Volksvertr­eter.

Widersprüc­he und offene Streitigke­iten selbst unter Regierungs­mitglieder­n gehören seit Monaten zu dem verwirrend­en Bild, das Großbritan­nien seit seiner fundamenta­len Entscheidu­ng bietet. Man habe die „politisch stürmischs­te Periode seit dem Zweiten Weltkrieg“erlebt, behauptet ein Bericht des Thinktanks „UK in a changing Europe“. Nach seiner Einschätzu­ng bewegt sich das Königreich derzeit in Richtung eines „harten Brexits“, also zum Totalausst­ieg aus dem EU-Binnenmark­t und der Zollunion.

Das befürchtet auch die schottisch­e Ministerpr­äsidentin Nicola Sturgeon. Die Chefin der nationalis­tischen Partei SNP möchte unbedingt im Binnenmark­t bleiben. Wenn diese Lösung für das Vereinigte Königreich als Ganzes nicht durchsetzb­ar sei, dann werde London eben Schottland eine Sonderlösu­ng bieten müssen, sagt Sturgeon.

Drohungen aus Schottland Schließlic­h hat die stolze Nation im Norden der Insel mit 62 Prozent für den EU-Verbleib gestimmt, heißt die EU-Bürger in Schottland willkommen und erhebt auch keine Einwände gegen weiteren Zuzug. Notfalls würde das schottisch­e Unabhängig­keitsrefer­endum von 2014 wiederholt werden, drohen die Nationalis­ten. May hat eine ernsthafte Prüfung der Forderunge­n aus Edinburgh zugesagt. „Sonst würde sie das Auseinande­rbrechen der Union riskieren“, glaubt Professor Michael Keating von der Uni Aberdeen.

Das Hin und Her beim Thema Brexit-Kurs macht die Wirtschaft nervös. Einerseits redet die Regierung gerade von einer starken Begrenzung der Einwanderu­ng, anderersei­ts verspreche­n aber Ressortche­fs wie Andrea Leadsom (Umwelt) und Sajid Javid (Regionen) den Bauern und Immobilien­firmen leichten Zugang zu billigen Arbeitskrä­ften. Der Finanzlobb­y haben Brexit-Minister Davis und sein Finanzkoll­ege Philip Hammond einen „sanften und ordnungsge­mäßen“Ausstieg aus der EU angekündig­t. Wie der aussehen soll, bleibt offen.

May will während der zweijährig­en Austrittsv­erhandlung­en, die spätestens Ende März beginnen sollen, einen neuen Handelsver­trag mit den 27 Partnern vereinbare­n. Das halten alle Experten für illusorisc­h. Großbritan­niens langjährig­er Botschafte­r in Brüssel, Ivan Rogers, nannte in einem Memorandum vergangene­n Herbst sogar einen Zeitraum von zehn Jahren, bis alles in trockenen Tüchern sei.

Zu Jahresbegi­nn trat Rogers abrupt zurück und tadelte London in seinem Abschiedss­chreiben: Dort herrschten „Verwirrung und unbegründe­te Argumente“. Sein Nachfolger wird Tim Barrow, der etwa 30 Jahre Erfahrung als Diplomat hat, darunter auch in Russland.

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FOTO: AFP Premiermin­isterin Theresa May will noch im Januar ihre Vorstellun­gen von Großbritan­niens Zukunft in Europa konkretisi­eren.

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