Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Theresa May weist Kritik am Brexit-Chaos zurück
Bislang keine Strategie für britische Verhandlungen über einen EU-Austritt erkennbar – Londoner Regierung uneins
LONDON - Die britische Premierministerin Theresa May wehrt sich gegen Vorwürfe, das Handeln ihrer Regierung bei den Brexit-Plänen sei chaotisch und inkonsequent. Sie wolle Details über ihre Ziele „in den kommenden Wochen“veröffentlichen, kündigte May am Sonntag in einem Interview des britischen Senders Sky News an. „Unser Denken ist nicht wirr.“Die Komplexität der Themen habe aber Zeit gefordert.
Gut sechs Monate nach der Abstimmung über seine Zukunft in Europa bleibt Großbritannien nach den neuen Umfragen so gespalten wie an jenem 23. Juni, als 51,9 Prozent den Brexit befürworteten. Diese Uneinigkeit scheint auch Mays Regierung zu lähmen. Noch im Januar will die konservative Premierministerin eine programmatische Brexit-Rede halten, so hat sie es im Dezember dem Verbindungsausschuss des Unterhauses versprochen.
Hingegen mochte sie sich nicht darauf festlegen, das Parlament werde über den Deal mit Brüssel abstimmen dürfen. Damit steht May jedoch im Widerspruch zu ihrem Brexit-Minister David Davis: Der hält es für „undenkbar“, dass zwar das Europaparlament - wie vom Lissabon-Vertrag festgelegt - ein Votum erhalten soll, nicht aber die in Westminster versammelten Volksvertreter.
Widersprüche und offene Streitigkeiten selbst unter Regierungsmitgliedern gehören seit Monaten zu dem verwirrenden Bild, das Großbritannien seit seiner fundamentalen Entscheidung bietet. Man habe die „politisch stürmischste Periode seit dem Zweiten Weltkrieg“erlebt, behauptet ein Bericht des Thinktanks „UK in a changing Europe“. Nach seiner Einschätzung bewegt sich das Königreich derzeit in Richtung eines „harten Brexits“, also zum Totalausstieg aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion.
Das befürchtet auch die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon. Die Chefin der nationalistischen Partei SNP möchte unbedingt im Binnenmarkt bleiben. Wenn diese Lösung für das Vereinigte Königreich als Ganzes nicht durchsetzbar sei, dann werde London eben Schottland eine Sonderlösung bieten müssen, sagt Sturgeon.
Drohungen aus Schottland Schließlich hat die stolze Nation im Norden der Insel mit 62 Prozent für den EU-Verbleib gestimmt, heißt die EU-Bürger in Schottland willkommen und erhebt auch keine Einwände gegen weiteren Zuzug. Notfalls würde das schottische Unabhängigkeitsreferendum von 2014 wiederholt werden, drohen die Nationalisten. May hat eine ernsthafte Prüfung der Forderungen aus Edinburgh zugesagt. „Sonst würde sie das Auseinanderbrechen der Union riskieren“, glaubt Professor Michael Keating von der Uni Aberdeen.
Das Hin und Her beim Thema Brexit-Kurs macht die Wirtschaft nervös. Einerseits redet die Regierung gerade von einer starken Begrenzung der Einwanderung, andererseits versprechen aber Ressortchefs wie Andrea Leadsom (Umwelt) und Sajid Javid (Regionen) den Bauern und Immobilienfirmen leichten Zugang zu billigen Arbeitskräften. Der Finanzlobby haben Brexit-Minister Davis und sein Finanzkollege Philip Hammond einen „sanften und ordnungsgemäßen“Ausstieg aus der EU angekündigt. Wie der aussehen soll, bleibt offen.
May will während der zweijährigen Austrittsverhandlungen, die spätestens Ende März beginnen sollen, einen neuen Handelsvertrag mit den 27 Partnern vereinbaren. Das halten alle Experten für illusorisch. Großbritanniens langjähriger Botschafter in Brüssel, Ivan Rogers, nannte in einem Memorandum vergangenen Herbst sogar einen Zeitraum von zehn Jahren, bis alles in trockenen Tüchern sei.
Zu Jahresbeginn trat Rogers abrupt zurück und tadelte London in seinem Abschiedsschreiben: Dort herrschten „Verwirrung und unbegründete Argumente“. Sein Nachfolger wird Tim Barrow, der etwa 30 Jahre Erfahrung als Diplomat hat, darunter auch in Russland.