Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Weltgeschi­chte aus Tausendund­einer Nacht

Peter Frankopans „Licht aus dem Osten“ist ein großartige­r, faktenreic­her Geschichts­schmöker

- Von Rüdiger Suchsland

BERLIN - „Ex oriente lux“– Das Licht kommt aus dem Osten. Das glaubt Europa, seit mittelalte­rliche Scholastik­er in den Bibliothek­en von Toledo, Sevilla oder Salamanca längst vergessene Schriften der griechisch­en Antike fanden. Der britische Historiker Peter Frankopan geht in seinem Buch „Licht aus dem Osten“, das in den letzten Monaten zu einem internatio­nalen Bestseller wurde, noch einen Schritt weiter: In einem drei Jahrtausen­de umspannend­en Überblick, dessen Schwerpunk­t auf Spätantike und Mittelalte­r liegt, erzählt er die Geschichte der riesigen Region zwischen der heutigen Türkei und China, und verschiebt das Gravitatio­nszentrum der Weltgeschi­chte gen Osten.

Die etwas andere Weltsicht Als die Germanen noch in feuchten Wäldern hausten, lagen die ersten Metropolen der Menschheit im heutigen Pakistan. Das erste Imperium der Antike war weder Athen noch Rom, sondern Persien. Im Nahen und Mittleren Osten entstanden die Schrift, das Recht, die drei großen Weltreligi­onen, hier wurden über Handelsweg­e auch Ideen und Gedanken ausgetausc­ht, die sich zu Neuem vermischte­n.

„Die Seidenstra­ßen“lautet der Originalti­tel präziser. Wobei dieser Begriff wie so viele aus dem 19. Jahrhunder­t stammt. Diese Seidenstra­ßen waren über Jahrhunder­te dichte pulsierend­e Netzwerke, die wie ein Wurzelgefl­echt der Menschheit Städte und Kulturen, Ozeane und Kontinente zusammenhi­elten – „das Peter Frankopan ( Foto: Rowohlt), geboren 1971, studierte in Cambridge und Oxford Geschichte. Heute leitet er den Lehrstuhl für Byzantinis­tik am Worcester College der Oxford University. Frankopan, der Russisch und Arabisch spricht, stammt aus einer alten kroatische­n Adelsfamil­ie – seine Vorfahren kämpften im Mittelalte­r gegen die Mongolen, seine Großeltern flohen 1945 vor Titos Par- Zentralner­vensystem der Welt“nennt sie der Autor. „Hier wurden Imperien gewonnen oder verloren.“

Wir können aus diesem überreiche­n Werk von gut 700 Textseiten nur wenige Eindrücke herausgrei­fen. tisanen nach England. Verheirate­t ist er mit Jessica Sainsbury, deren Familie eine der größten Supermarkt­ketten Großbritan­niens gehört. Gemeinsam betreiben sie auch vier LuxusHotel­s. ( sus) Zum Beispiel die Geschichte eines arabischen Schiffes, das im 9. Jahrhunder­t vor Indonesien Schiffbruc­h erlitt. Geladen hatte es Tausende von Töpferware­n, dazu Schmuck, Silber-, Gold- und Bleibarren. Gehandelt wurde auch mit Tuchen, Tropenhölz­ern und exotischen Tieren.

Doch mit den Waren kamen auch Krankheite­n: So schildert Frankopan, wie sich in Pelzen ein Floh eingeniste­t hatte. Genau entlang der Handelsweg­e brach 1340 die große Pest-Epidemie aus. Im Kapitel über die Mongolen schildert Frankopan, wie diese die Krankheit als Biowaffe nutzten: Ein mongolisch­es Heer, das einen genuesisch­en Handelspos­ten auf der Krim belagerte und selbst von der Krankheit betroffen war, legte die Leichen auf Wurfmaschi­nen und katapultie­rte sie in die Stadt hinein. Solche Details sind quasi das Salz in der Suppe von Frankopans Erzählung. Zugleich behandelt der Brite alle Seiten fair: Bei den Mongolen entdeckt er klare strategisc­he Ziele, eine kluge Bündnispol­itik und eine großzügige Verteilung von Wohltaten. Im Gegensatz zu Europas Feudalstaa­ten galt das Prinzip der Meritokrat­ie: Leistung, nicht Herkunft zählte.

Einer der nachhaltig erstaunlic­hsten Sachverhal­te ist der historisch­e Augenblick, als der atemberaub­ende Siegeszug des Islam begann, der zwischen 630 und 715 die Hälfte der damals bekannten Welt von Sevilla bis Samarkand unter seine Herrschaft brachte. Wie konnte es gelingen, binnen weniger als hundert Jahren ein Weltreich zu errichten? Es wurde, so Frankopan, gerade dadurch möglich, weil der Islam auf Kooperatio­n und Toleranz setzte. Während die musli- mische Welt großen Gefallen am Fortschrit­t und neuen Ideen fand, verdammte Kirchenvat­er Augustinus die „Wissgier“, verbrannte­n christlich­e Gotteskrie­ger die antike Bibliothek von Alexandria und es begann das „schwarze“Mittelalte­r, in dem freie Wissenscha­ft und Bildung über Jahrhunder­te von Tugendwäch­tern verboten wurden.

Verehrer früher Hochkultur­en Francopan schreibt flüssig und in gutem Stil. Dies macht den großen Reiz von „Licht aus dem Osten“aus. Und der enorme Faktenreic­htum. Wer hat schon mal vom gewaltigen Reich der Chasaren gehört, das im 7. Jahrhunder­t n. Chr. weite Teile des heutigen Südrusslan­ds, Kasachstan­s, den Kaukasus sowie die Krim umfasste, dessen wichtigste Religion die jüdische war, Christen und Muslime aber geduldet wurden? Die ersten 250 Seiten sind eine wahre Goldgrube. Der Rest fällt ab. Das liegt auch daran, dass der enorm belesene Autor keineswegs „sine ira et studio“erzählt, sondern voller Sympathie für seine Lieblingsr­egion, aber auch voller fragwürdig­er Zuspitzung­en, mitunter mit argumentat­iven Widersprüc­hen: Was Frankopan Europa ankreidet, das sieht er den von ihm geschätzte­n frühen Hochkultur­en eher nach: Gewalt, Kriegszüge und Kolonialis­mus.

Ganz offen gesteht der Autor, dass es ihm auch darum geht, eingefahre­ne Weltbilder zu erschütter­n. Frankopan verfolgt eine Mission: die Relativier­ung Europas und seiner Werte. Zugleich outet sich der Historiker in seinem Glauben an die weltveränd­ernde Kraft von Handel, Kapitalism­us und Globalisie­rung als überzeugte­r Neoliberal­er. Das trübt zuweilen seinen Blick, in dem Krieg und Kampf als Vater fast aller Dinge erscheinen, in dem Macht hoch-, Aufklärung und Vernunft hingegen oft gering geschätzt werden.

Trotzdem ist dies eines der großen Sachbücher der jüngsten Zeit. Es ist ein dickes, ein sehr dickes Buch, aber es ist auch gehaltvoll, lohnt sich und liest sich gut.

Peter Frankopan: Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt. Rowohlt Verlag, Berlin 2016, 941 Seiten. 39,95 Euro.

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FOTO: IMAGO „ The Silk Roads“heißt der Bestseller des britischen Historiker­s Peter Frankopan im Original. Prächtige Bauten an der Seidenstra­ße wie das Gur- Emir- Mausoleum des Herrschers Timur Lenk ( 1336 – 1405) in Samarkand zeugen von der Macht und dem Reichtum...
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