Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ein Erbe von Diktaturen
Sprachwissenschaftler küren „Volksverräter“zum Unwort des Jahres 2016 – Nationalsozialisten führten den Begriff ins Strafrecht ein
DARMSTADT (KNA/sz) - Als Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit in Dresden ankamen, wurden sie lautstark als „Volksverräter“beschimpft. Als rechte Demonstranten Sigmar Gabriel im August 2016 in Salzgitter mit „Volksverräter“niederbrüllten, zeigte der SPD-Chef den Stinkefinger.
„Volksverräter“gehört zu den Lieblingsvokabeln von Pegida, radikalen AfD-Anhängern und der rechten Szene. Am Dienstag haben Sprachwissenschaftler den Ausdruck, dem der Geruch des Nationalsozialismus anhaftet, zum Unwort des Jahres 2016 gekürt – und ihn damit an die Seite des bereits 2014 zum Unwort gewählten Begriffs „Lügenpresse“gestellt.
Im November hatte der AfD-Abgeordnete Stefan Räpple im Landtag von Baden-Württemberg für einen Eklat gesorgt, als er in einer Plenardebatte Verterter anderer Parteien als „Volksverräter“beschimpfte. Dafür kassierte er eine Rüge der Landtagspräsidentin Muhterem Aras. Auch seine eigene Fraktion leitet Maßnahmen gegen Räpple ein, schwieg sich jedoch zu den Details aus.
Der Begriff „Volksverräter“hat in Deutschland eine finstere Karriere. Erstmals überliefert ist er aus einer Parlamentssitzung in der Frankfurter Paulskirche. Dort beschimpfte am 26. Mai 1849 der kommunisti- schen Ideen nahestehende Abgeordnete Wilhelm Wolff den Reichsverweser (Staatsoberhaupt), Erzherzog Johann von Österreich, mit den Worten, er sei der „erste Volksverräter“; man müsse ihn für vogelfrei erklären.
Konjunktur hatte der Begriff auch nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Als „Volksverräter“diffamierten Rechtsextreme all jene Demokraten, die sich für Frieden stark gemacht hatten und für die Weimarer Republik eintraten.
1933 führten die Nationalsozialisten den Begriff ins Strafrecht ein: Gab es zuvor lediglich den Straftatbestand „Landesverrat“, so entstand eine Umdeutung ins Völkisch-Nationale: Fortan konnte jeder als „Volksverräter“zum Tode verurteilt werden, der sich gegen die rassisch definierte Idee der „Volksgemeinschaft“auflehnte. Zuständig für die Verfolgung des Delikts wurde der Volksgerichts- hof. Dessen Präsident, der „Blutrichter“Roland Freisler, legte den Begriff des Volksverräters zunehmend uferlos aus. Im zweiten Prozess gegen Mitglieder der Weißen Rose schrie er zur Eröffnung den Angeklagten entgegen, dass der Nationalsozialismus gegen solche „Verräter“überhaupt kein Strafgesetzbuch benötige. Auch gegen Juden richtete sich der Begriff „Volksverräter“.
Für die Sprecherin der „Unwort“Jury, die Sprachwissenschaftlerin Nina Janich, ist der Begriff „Volksverräter“deshalb ein „Erbe von Diktaturen“. Wer das Wort heute gegen gewählte Volksvertreter gebrauche, definiere Deutschland zuerst eine Volksgemeinschaft, in der nur derjenige Rechte haben sollte, der dem deutschen Volk durch Geburt und Blut angehört. Damit werde ein großer Teil der Bevölkerung der Bundesrepublik ausgegrenzt.