Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Kein Kopf, keine Mittel
Die deutschen Handballer verlieren beim 20:21 gegen Katar im Achtelfinale Rezept und Nerven und scheiden aus
PARIS (SID/dpa/sz) - Andreas Wolff lag völlig bedient neben seinem Tor, der scheidende Bundestrainer Dagur Sigurdsson starrte fassungslos ins Leere: Als der Medaillentraum der deutschen Handballer bei der WM in Frankreich im Achtelfinale jäh geplatzt war, herrschten im Lager des Europameisters großer Frust und tiefe Enttäuschung. Nach der unerwarteten 20:21 (10:9)-Niederlage gegen VizeWeltmeister Katar sind die Deutschen gescheitert, die erfolgreiche Ära Sigurdsson endete mit einer Pleite.
„Das ist ein großer Schock für uns. Wir haben zu viele Fehler gemacht. Auch ich habe Fehler gemacht“, sagte der nach Japan wechselnde Trainer aus Island und bezeichnete das Achtelfinal-Aus als „größte Enttäuschung in meiner Zeit beim DHB“. Vizepräsident Bob Hanning machte Sigurdsson bei aller Enttäuschung ein dickes Kompliment: „Dagur hat das Denken im deutschen Handball nachhaltig geändert – das wird über seine Zeit hinaus wirken. Es war eine unfassbar positive Ära, die jetzt zu Ende geht. Für ihn tut es mir unglaublich leid. Aber solch ein Spiel gehört auch zu einem großen Trainer.“
Eine ganz schwache Angriffsleistung wurde dem deutschen Team in Paris zum Verhängnis. „Das ist einfach nur bitter. Wir haben zu viele Bälle weggeschmissen“, sagte der nachnominierte Holger Glandorf. Noch Minuten nach Spielschluss saß er mit einem Handtuch überm Kopf auf der Bank. Er wollte nicht mitansehen, wie Asienmeister Katar um den neunfachen Torschützen Rafael Capote den Coup ausgelassen feierte. Ein erneut überragender Torhüter Wolff hatte die Deutschen lange vom Viertelfinale gegen Slowenien träumen lassen. Doch am Ende halfen die Paraden des Kielers ebenso wenig wie die je vier Treffer von Glandorf und Rechtsaußen Patrick Groetzki.
17:13 hatte der Olympia-Dritte nach 46 Minuten geführt, doch in der hektischen Schlussphase verloren die Deutschen den Kopf. „Wir hatten einen großen Traum. Das haben wir so nicht erwartet“, sagte Groetzki, Patrick Wiencek hatte keine Lust auf große Analyse. „Wir sind einfach nur leer“, sagte der Kreisläufer, der in der 50. Minute nach seiner dritten Zeitstrafe die Rote Karte gesehen hatte.
Fünf Spiele, fünf Siege – die DHBAuswahl war beeindruckend durch die Vorrunde gestürmt. Die schlechteste Turnierleistung kam zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. „Solche Tage gibt es“, sagte Groetzki: „Leider.“
Katar entwickelt sich trotz des klaren Siegs im olympischen Viertelfinale (34:22) allmählich zum deutschen Alptraum. 2015 war Deutschland im Viertelfinale am damaligen Gastgeber gescheitert. „Ich hatte schon das ganze Turnier über das Gefühl, dass es uns treffen kann. Wir haben es nicht geschafft, konstant auf einem Niveau zu spielen“, sagte Hanning, der die Schiedsrichter kritisierte: „Am Ende sind wir klar benachteiligt worden.“
Das war aber nicht entscheidend. Nach gutem Start (6:2/11.) baute der Favorit in der Offensive ab. Angriffe wurden zu überhastet abgeschlossen, Pässe insbesondere von Spielmacher Steffen Fäth verworfen, falsche Entscheidungen getroffen. Zudem fand die DHB-Auswahl in Weltklassetorhüter Danijel Saric immer wieder ihren Meister. Nach 20 Minuten gelang Katar der Ausgleich zum 7:7. „Genau die Teams, die in der Gruppe Probleme hatten, kommen dann ohne Angst und können frei aufspielen. Und Saric im Tor war einfach überragend. Er hat uns wirklich den Zahn gezogen, und wir haben den Mut verloren“, sagte Sigurdsson. „Wir waren taktisch zu statisch und haben zu ängstlich gespielt. Wir hatten einfach zu wenig Spieler, die gut drauf waren.“
Nur auf ihre Deckung um Abwehrchef Finn Lemke und den bärenstarken Wolff konnten sich die Deutschen verlassen. Lemke und Wiencek blockten immer wieder Würfe, Wolff parierte bis zur Pause 60 Prozent der Würfe, darunter zwei Siebenmeter. Das erste Turniertor Glandorfs bescherte eine 10:9-Führung zur Pause. Danach parierte Wolff seinen dritten Siebenmeter, doch im Angriff suchte der Europameister verzweifelt nach Lösungen und scheiterte immer wieder an Saric. Katar ging es allerdings ähnlich. Nach 43 Minuten setzten sich die Deutschen auf 15:12 und dann auf 17:13 ab, auch eine doppelte Unterzahl überstanden sie unbeschadet. Doch am Ende war Katar cleverer. „Ich glaube, dass man den Kopf ein bisschen Richtung Ende hatte. Da muss man ehrlich sein“, sagte Sigurdsson, soll heißen: Manche im Team dachten wohl, die Partie sei bereits gewonnen.
Nun gilt es, Sigurdssons Nachfolger zu finden. Kandidaten sind Christian Prokop (Leipzig) und der gebürtige Meersburger Markus Baur (Stuttgart). Die Hypothek für den neuen Mann wird nun immerhin kleiner sein.
Der Deutsche Handballbund erwägt bei der Heim-WM 2019, Spiele in einem Fußballstadion auszutragen. Nach dem Vorbild des momentanen Gastgebers Frankreich prüft der Verband einen Umzug ins Düsseldorfer Stadion, in das 54 000 Zuschauer passen. Deutschland trägt die WM 2019 gemeinsam mit Dänemark aus. Frankreich hatte sein Achtelfinale gegen Island am Samstag im Stade Pierre-Mauroy in Lille ausgetragen. 28 010 Zuschauer sorgten für eine WM-Rekordkulisse. Das Viertelfinale steigt im Stadion des Fußball-Erstligisten OSC Lille.