Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Wir erinnern uns, um nicht zu wiederholen“
Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann erklärt, warum das Gedenken an den Holocaust so wichtig ist
RAVENSBURG - Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hält die Erinnerungskultur in Deutschland für notwendig, um sich von den NSVerbrechen während des Zweiten Weltkrieges dauerhaft zu distanzieren. Das Ansehen Deutschlands im Ausland beruhe „genau auf dieser Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“, sagte Assmann im Gespräch mit Claudia Kling.
Frau Assmann, heute, am 27. Januar, ist Holocaust-Gedenktag. Warum hat sich dieser Tag bislang nicht im Bewusstsein der Menschen etabliert? Weil wir vor dem Holocaust-Gedenktag, den Roman Herzog ja erst 1996 eingeführt hat, schon andere Gedenktage hatten, die stärker auf das zielen, was in Deutschland passiert ist. Jeder weiß beispielsweise, dass am 9. November die Reichspogromnacht war. Die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee war dagegen weit von uns weg und ist nicht so tief im Bewusstsein der Deutschen verankert.
Brauchen wir überhaupt Gedenktage, Mahnmale und Museen – und wenn ja, warum brauchen wir sie? Die Erinnerung läuft auf ganz verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Akteuren ab. Der Staat ist eine wichtige Instanz dabei, da ist Deutschland kein Sonderfall. Er gibt die Rahmenbedingungen des Erinnerns vor, dadurch entsteht eine gewisse Stabilität im Selbstverständnis der Nation oder des Kollektivs. Aber eine gemeinsame Erinnerungskultur braucht mehr als das. Das Entscheidende geschieht auf lokaler Ebene, dort, wo die Menschen wohnen, sich die Zivilgesellschaft formiert, und neue Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erfunden werden.
Erinnerungskultur funktioniert also nur, wenn die Bürger das mit Leben füllen, was der Staat als Rahmenbedingung vorgibt? Denken Sie zum Beispiel an die Stolperstein-Projekte in vielen Kommunen. Sie zeugen von einer lebendigen Erinnerungskultur, die eben nicht an den Staat delegiert werden kann.
Was halten Sie überhaupt von staatlich genormter Gedenkkultur? Jede Nation hat ihre Feiertage, ihre Gedenkorte und ihre entsprechenden Riten. Das ist ganz normal. Aber Deutschland hat ein großes Problem mit seiner nationalen Identität. Wir haben jahrzehntelang sozusagen nationalstaatsfern gelebt und uns als Europäer fühlen dürfen. Erst nach der Wiedervereinigung und mit dem Wechsel nach Berlin sind wir wieder in den Zustand eines Nationalstaats gekommen. Deshalb haben wir auch keinen Nationalfeiertag, der auf ein historisches Datum zurückgeht – und das ist eine Ausnahme. Die historischen Feiertage dieses Landes haben etwas mit der NS-Geschichte zu tun.
Der Schriftsteller Martin Walser sprach 1998 in seiner Paulskirchenrede mit Bezug auf den Holocaust von einer „unaufhörlichen Präsentation der Schande“, Rudolf Augstein äußerte sich ähnlich. Und jetzt wird diese Wortwahl als Provokation von Rechtsaußen benutzt. Wieso fällt es manchen Menschen so schwer, stolz auf unsere Erinnerungskultur zu sein? Als Martin Walser damals in der Paulskirche sprach, dachten viele, das sei die Meinung einer Generation, die den Krieg noch miterlebt hat und die langsam aus der Mitte der Gesellschaft verschwinden wird. Jetzt haben wir aber gesehen, dass der AfD-Politiker Björn Höcke, der zur übernächsten Generation gehört, dasselbe Argument wiederauflegt. Man darf aber Walser und Höcke nicht in einen Topf werfen. Herr Höcke gehört zu denen, die sich gegen einen demokratischen Grundkonsens in dieser Gesellschaft wenden. Deutschland hat diese Erinnerungskultur aufgebaut mit dem Ziel, sich von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die es im Zweiten Weltkrieg begangen hat, dauerhaft zu distanzieren. Wir erinnern uns also, um nicht zu wiederholen. Menschen wie Höcke, die intensiv mit Wiederholen beschäftigt sind, haben nicht erkannt, dass das Ansehen Deutschlands im Ausland genau auf dieser Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit beruht. Sie denken immer noch in den Kategorien von Ehre und Schande, ein vollkommen überholtes, historisches Modell aus dem 19. Jahrhundert.
Zum Erinnern gehört auch das Vergessen. Den Satz „Es muss ja mal vorbei sein“haben Sie sicherlich schon oft gehört. Aleida Assmann (Foto: imago) ist die Expertin in Deutschland für Erinnerungsforschung. Die Professorin hatte an der Universität Konstanz den Lehrstuhl für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft inne. In den USA lehrte sie als Gastprofessorin unter anderem an der Yale University und an der Princeton University. Das war der Satz, der von 1945 an immer zu hören war. Alle Deutschen wollten einen Neubeginn, sie wollten eine Chance, ein zweites Leben und eine Demokratie aufbauen. Das war ja auch ein großartiges Zukunftsprojekt – um den Preis des „Schlussstrichs“. Erst nach vier Jahrzehnten gelang es, eine Erinnerungskultur zu etablieren, die auf einem „Trennungsstrich“beruht. Das bedeutet: Wir können die Vergangenheit nur hinter uns lassen, wenn wir uns mit ihr auseinandersetzen und sie bewusst verarbeiten.
Aber wer entscheidet, wann genug verarbeitet wurde? Wenn Sie nach einem Recht auf Vergessen fragen, dann muss das von den Opfern ausgehen. Dort, wo es Täter und Opfer gibt, besteht eine Asymmetrie in der Gewaltbeziehung – mit Allmacht auf der einen und Ohnmacht auf der anderen Seite. In einer solchen Konstellation gibt es keine Möglichkeit, sich gemeinsam auf das Vergessen zu einigen. Da liegt es ausschließlich an den Opfern zu entscheiden, ob sie das, was geschehen ist, vergessen wollen. Im Hinblick auf den Holocaust ist es so, dass sich die Opfer für eine starke Erinnerungskultur entschieden haben.
Es wird ein großer Einschnitt sein, wenn demnächst alle Zeitzeugen, sowohl Opfer als auch Täter, tot sein werden. Was bedeutet das für die Erinnerungskultur? Die Aura der Zeitzeugen ist durch nichts zu ersetzen – auch nicht durch Hologramme oder sonstige technische Tricks. Die Präsenz der Zeitzeugen in Schulen und an Gedenkstätten hat die jungen Leute ganz anders in ihren Bann ziehen können und ihnen diese Vergangenheit lebendig gemacht. Diese Vergangenheit wird aber nicht verschwinden, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt. Wir haben Tausende von Videozeugnissen, es gibt neue Filme, die Vergangenheit vergegenwärtigen, und wir dürfen die Rolle der Künste und der Medien nicht unterschätzen. Die neuen Generationen haben viele Wege gefunden, um Wissen aus den Archiven zu aktualisieren und neu zu beleben.
Es wird immer wieder behauptet, die junge Generation sei des Gedenkens an den Holocaust überdrüssig. Teilen Sie diese Einschätzung? Auch das ist wieder so eine Behauptung, die sich hält. Erst hieß es: Wir haben nichts gewusst, dann hieß es: Wir können es nicht mehr hören. Das ging sehr schnell von einem Extrem zum anderen. In der Realität ist es so, dass der Geschichtsunterricht zum Zweiten Weltkrieg in den Schulen sehr zurückgefahren wurde. Deshalb zählt das Argument Überdruss nicht. Die jungen Leute finden auch wieder neue Zugänge zur Geschichte – auch durch Schüler mit Migrationshintergrund: Sie können das, was sie hier erfahren, mit ihrer eigenen Geschichte vergleichen. Denken Sie an die Türkei und den Genozid an den Armeniern.
Ihrer Meinung nach sollte das Erinnern nicht an Ländergrenzen haltmachen. Wie erleben Sie die momentanen Abschottungstendenzen der Nationen? Wir waren in Europa bereits so weit, dass die Nationen ihre Erinnerungen zusammengelegt und gemeinsam erforscht haben. Das hat zum Teil schon sehr gut geklappt – beispielsweise mit Frankreich und mit Polen. Ich sehe Europa als idealen Rahmen, um die eigene Nationalgeschichte auch transnational erzählen zu können. Diese Entwicklung wird im Moment radikal rückgängig gemacht. Wir erleben eine Nationalisierung der Geschichte in den Museen und einen Rückfall in eine nationale Selbstbespiegelung, in der Begriffe wie Stolz, Ehre und das eigene Leiden Konjunktur haben.
Und sehen Sie eine Möglichkeit, diese Entwicklung zu stoppen? Wir dürfen nicht nur auf die Regierungen in Ungarn oder in Polen schauen. In diesen Ländern gibt es noch sehr gut funktionierende Zivilgesellschaften, die sich die Geschichte nicht aus der Hand nehmen und vom Staat bevormunden lassen. Es gibt diesen Widerstand, und es wird nicht einfach alles angenommen. Insofern hoffe ich, dass sich diese Tendenz noch einmal drehen lässt.