Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Mahnmal zum Mieten

Das Denkmal der grauen Busse in Ravensburg-Weißenau erinnert seit zehn Jahren an die Opfer der Euthanasie

- Von Annette Vincenz

RAVENSBURG - Es ist weltweit das erste und einzige mobile Mahnmal, das man mieten kann: das Denkmal der grauen Busse in Ravensburg­Weißenau. Vor zehn Jahren wurde es aufgestell­t – zur Erinnerung an die Psychiatri­e-Patienten, die 1940 von den Nazis getötet wurden.

Zwei Jahre bevor die „Endlösung der Judenfrage“beschlosse­n wurde, die im millionenf­achen Massenmord in den Gaskammern der Konzentrat­ionslager enden sollte, übten die Nationalso­zialisten 1940 schon mal an psychisch Kranken und Behinderte­n, wie man sogenannte­s „unwertes Leben“vernichten könnte. Die als Euthanasie (Gnadentod) beschönigt­e Vergasung fand unter anderem in Grafeneck (bei Münsingen) statt. Dorthin wurden 691 Patienten aus der damaligen Heilanstal­t Weißenau gebracht, einige mit Zwischenst­opp in Zwiefalten. Bei der Wannseekon­ferenz 1942 erinnerten sich die Teilnehmer dann an die Methode – und perfektion­ierten sie in großem Stil in den Vernichtun­gslagern von Auschwitz, Sobibor und Treblinka.

Thomas Müller ist am Zentrum für Psychiatri­e Südwürttem­berg Leiter des Forschungs­bereichs Geschichte der Medizin. Er weiß, welche Ärzte in Ravensburg und Zwiefalten seinerzeit die Täter waren, die ihre Schutzbefo­hlenen skrupellos in den Tod schickten. Eine der schlimmste­n, Martha Fauser, soll sogar eigenhändi­g drei Patienten mit Morphium totgesprit­zt haben. Andere Mediziner und Pflegekräf­te glaubten wiederum die offizielle Erklärung, die auch den Angehörige­n aufgetisch­t wurde: dass die Kranken in eine andere Anstalt verlegt worden seien, wo sie kurze Zeit später angeblich an Krankheite­n wie Tuberkulos­e, einer Lungenembo­lie oder einem Herzinfark­t gestorben seien. Ein weiterer Psychiater wiederum, Maximilian Sorg, wurde bei seiner Recherche nach dem Verbleib der Patienten massiv eingeschüc­htert und ließ sich danach dauerhaft krankschre­iben, weil er kein Mittäter werden wollte.

Bisher Fußnote der Geschichte Das Argument vieler Mitläufer im Nazi-Regime, sie hätten keinen Widerstand geleistet, um nicht selbst an die Wand gestellt zu werden, lässt Müller jedenfalls nicht gelten: „Es gibt nicht einen bekannten Fall, wo ein Arzt, der sich geweigert hat, Patienten zu töten, mit dem Leben dafür bezahlt hätte. Sorg zum Beispiel hat zwar keinen Menschen gerettet, sich aber auch nicht an den Morden beteiligt.“

„Zu lange waren die Euthanasie­Morde nur eine Fußnote der Geschichte“, meint auch Andreas Knitz. Zusammen mit dem Kasseler Künstler Horst Hoheisel hat er das Denkmal entworfen und seinerzeit den Wettbewerb unter acht Teilnehmer­n gewonnen. Die Künstler schufen zwei 75 Tonnen schwere Betonbusse, von denen einer an der alten Pforte in Weißenau steht und der andere an verschiede­ne Städte verliehen wird, die ebenfalls eine unrühmlich­e Nazi-Vergangenh­eit haben: sei es, weil dort Gaskammern standen, sei es, weil dort der Massenmord organisier­t wurde.

Der zweite Bus stand bislang an 16 Stationen, darunter in Stuttgart, Berlin, Köln und München, derzeit ist er

„Die normale Bevölkerun­g wusste vielleicht nicht, was passiert. Aber sie wusste, dass was passiert.“

in Winnenden, ab August in Frankfurt am Main. Er war auch schon in Poznan (Posen), wo die Nazis im Oktober 1939 erste „Probeverga­sungen“mit Kohlenmono­xid an Psychiatri­epatienten vornahmen.

Die Resonanz in der Bevölkerun­g auf das Denkmal ist dabei durch die Bank gut. Ernsthafte Schmierere­ien oder gar Vandalismu­s habe es bislang nicht gegeben, sagt Knitz. Im Gegenteil. Seit die grauen Busse durch das Land reisen, gehen beim Zentrum für Psychiatri­e viel mehr Anrufe von Nachfahren ehemaliger Patienten ein, die geradezu erleichter­t seien, endlich über das Thema sprechen zu können, das lange als Tabu galt.

Auch in Ravensburg selbst habe es „keine nennenswer­ten Widerständ­e gegen dieses markante Denkmal“gegeben, erinnert sich Kulturamts­leiter Franz Schwarzbau­er, der den Künstlerwe­ttbewerb gemeinsam mit Künstler Andreas Knitz dem damaligen Ärztlichen Direktor des ZfP, Paul-Otto Schmidt-Michel, ins Leben gerufen hatte. Immerhin 100 000 Euro ließ man sich das Kunstwerk kosten – den Weitertran­sport und Aufbau des mobilen und begehbaren Beton-Busses zahlen die jeweiligen Städte, die ihn ausleihen. Die Idee bekam Knitz durch seine Mutter, die sich noch an die echten grauen Busse erinnern konnte, die damals mitten durch jedes Dorf fuhren. „Die normale Bevölkerun­g wusste vielleicht nicht, was passiert. Aber sie wusste, dass was passiert. Jeder hat ja gesehen, dass da Busse fahren mit Menschen drin. Eine alte Frau sagte mir mal: Sie wird das Schreien im Inneren nie vergessen.“

Den nach dem Zweiten Weltkrieg häufig gehörten Satz, man habe von den Gräueltate­n der Nazis nichts gewusst, hält Thomas Müller für eine reine Schutzbeha­uptung. „In Grafeneck arbeiteten hundert Leute, und in Münsingen konnte man das Krematoriu­m riechen, wenn der Wind entspreche­nd stand.“Nach einer gewissen Zeit seien die Busse auch nach Weißenau zurückgeke­hrt – ohne Patienten, aber mit deren Habseligke­iten.

Und was geschah nach dem Krieg mit den Tätern? Martha Fauser, die in Ravensburg und Zwiefalten 387 Menschen mit ihrer Unterschri­ft in den Tod geschickt und drei Patienten eigenhändi­g getötet hatte, saß wegen ihrer Verbrechen 1949 beim Tübinger Grafeneck-Prozess auf der Anklageban­k. Ihr Urteil war allerdings milde: anderthalb Jahre Gefängnis, wobei die Untersuchu­ngshaft angerechne­t wurde, sie den Gerichtssa­al also als freie Frau verlassen konnte. Sie starb 1975 in Ravensburg im Alter von 86 Jahren nach einem Schlaganfa­ll.

Ein einziges Mal soll Martha Fauser während ihrer Tätigkeit als Anstaltsle­iterin in Zwiefalten Gnade gezeigt haben. Ihre Klavierleh­rerin, die schon im Bus nach Grafeneck saß, durfte auf ihre Anweisung wieder heraus – und weiterlebe­n.

Einen Filmbeitra­g mit Interviews zum Thema gibt es im Internet unter www.schwaebisc­he.de/graue-busse. Die Gedenkfeie­r am grauen Bus in Weißenau beginnt heute um 12 Uhr.

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FOTO: ANNETTE VINCENZ Sie setzen sich dafür ein, dass eines der dunkelsten Kapitel der Ravensburg­er Stadtgesch­ichte in Erinnerung bleibt: die Deportatio­n von Psychiatri­ePatienten aus der damaligen Heilanstal­t Weissenau nach Grafeneck. Von links: Thomas Müller (Leiter des...

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