Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Den Opfern eine Stimme geben
Gedenken an Baienfurter Opfer des Nationalsozialismus
BAIENFURT (syg) - Im evangelischen Gemeindehaus wurde am Mittwochabend der Baienfurter Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Zu der Gedenkstunde eingeladen hatte der SPD-Kreisverband. Die SPD-Kreisvorsitzende Heike Engelhardt führte durch die Veranstaltung, an der rund 30 Personen teilnahmen, darunter der Bürgermeister und Gemeinderäte von Baienfurt. Im Mittelpunkt standen die Opfer der Euthanasie.
In den Jahren 1940 und 1941 wurden 70 000 Behinderte und psychisch Kranke aus Heil- und Pflegeanstalten abgeholt und in sechs Tötungsanstalten im Deutschen Reich systematisch getötet. Die Abtransporte und Tötungen erfolgten auf ärztliche Anordnung. Für die Tötungsanstalt Grafeneck (Landkreis Reutlingen) sind 10 654 Tötungen bekannt. Allein aus der Heilanstalt in Weißenau kamen 691 Frauen und Männer nach Grafeneck, sechs davon stammten aus Baienfurt.
Die Geschichte dieser sechs Menschen recherchierte ein Jahr lang die Baienfurter Gemeinderätin Brigitta Wölk. Dabei stieß sie auf einige Hindernisse, denn die Quellen waren alles andere als verlässlich. So wurde oft das Todesdatum oder auch der Sterbeort in den Unterlagen gefälscht. Folgende Daten nimmt Wölk als gesichert an: Margarethe Thoma, geboren am 24. Januar 1888, ermordet am 24. September 1940 in Grafeneck. Rosina Schad, geboren am 9. Juli 1902, getötet am selben Tag in Grafeneck. Theresia Thoma, Schwester von Margarethe Thoma, geboren am 12. Oktober 1902, wurde ebenfalls in Grafeneck ermordet und zwar am 30. August 1940. Karl-Friedrich Nessler, geboren am 9. April 1920, fand am 8. November 1940 in Grafeneck den „Gnadentod“.
Über die Schicksale von Konrad Geng und Severin Fiderer wusste Wölk mehr zu berichten. Konrad Geng kam am 24. November 1911 in Baienfurt zur Welt. Von einem heute noch lebenden Neffen des Konrad Geng erfuhr Wölk, dass er ein großer „Schaffer“war, „er konnte arbeiten wie ein Bär“. In Gengs Krankenakte ist vermerkt, dass er als Kleinkind an Rachitis erkrankte und hör- und sprachgeschädigt war. Zudem habe er zu Tobsuchtsanfällen geneigt. Vier Mal wurde er in Weißenau aufgenommen, das letzte Mal 1938. Bereits 1934 wurde er zwangssterilisiert. Am 27. Mai 1940 fand Konrad Geng in Grafeneck ein gewaltsames Ende.
Sein Leben war „unnütz“Ebenfalls ausführlich berichtete Wölk über Severin Fiderer, geboren am 6. November 1884 in Baienfurt. Mit knapp 30 Jahren kämpfte der Baienfurter als Soldat im Ersten Weltkrieg. 1915 erlitt er einen Bauchschuss. Nach seiner Genesung kehrte er in den Krieg zurück. Als er im März 1916 auf Heimaturlaub war, traten die ersten Symptome auf. Er hörte Stimmen, die ihm sagten, sein Vater und seine Frau würden erschossen, und auch ihn wolle man umbringen. Im April 1916 wurde Fiderer in Weißenau aufgenommen. Wölk führte aus, wie sich der Ton in Fiderers Krankenakten im Laufe der Jahre veränderte. Zu Beginn erfolgten die Beschreibungen des Kranken neutral und ohne Bewertung: „Meist zusammengerollt auf dem Bett liegend – unter der Bettdecke versteckt. Ohne Verkehr zu seinem Umfeld. Bei schönem Wetter draußen.“Ab 1931 hätten die Beschreibungen zunehmend persönliche Werturteile enthalten. So wurde der Kranke 1936 als „völlig unmotiviert, faul und träge“beurteilt. Wölk vermutete, dass das das Todesurteil für Fiderer bedeutete, denn „faul“hieß, dass er aus Sicht der Nationalsozialisten nichts zum Erhalt des deutschen Volkes beitrug, sein Leben also „unnütz und unwert“war. Am 27. Mai 1940 wurde Severin Fiderer in Grafeneck ermordet.
Ein weiterer Baienfurter, der ebenfalls ein Opfer der NS-Ideologie wurde, sie jedoch überlebte, ist Karl Schuler. Seine Geschichte erzählt ein Hörspiel, das nach Wölks Vortrag in der Gedenkveranstaltung vorgespielt wurde. Geschrieben wurde es von Regina Liberatore, einer Therapeutin am ZfP in Weißenau. Alle Sprecher des Hörspiels sind selbst Menschen mit einer psychischen Erkrankung, die am ZfP in Behandlung sind. In kurzen, lebendigen Szenen wird im Hörspiel der Lebensweg Karl Schulers nachgezeichnet. 1936 wurde er in Weißenau mit der Diagnose Schizophrenie eingewiesen. Wenig später wurde seine „Unfruchtbarmachung“ärztlich angeordnet, 1937 wurde er gegen seinen Willen sterilisiert. Auf Wunsch seiner Eltern und gegen ärztlichen Rat wurde Schuler 1937 entlassen und überlebte so die „Aktion Gnadentod“. Es ist angedacht, das Hörspiel auf der Internet-Seite des ZfP einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Und damit den Opfern eine Stimme zu geben.