Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Gewissheit bekommen

Rotes Kreuz hilft Flüchtling­en, Angehörige wiederzufi­nden – 2700 Anfragen im Vorjahr

- Von Christin Hartard

RAVENSBURG - Als der afghanisch­e Familienva­ter sich im Dezember vergangene­n Jahres an den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes wendet, hat er schon seit zweieinhal­b Jahren kein Lebenszeic­hen mehr von seiner Frau und den Kindern erhalten. Die Familie entscheide­t sich im März 2014 zur Flucht nach Deutschlan­d. Zu groß ist die Bedrohung durch die Taliban. Doch schon beim nächtliche­n Grenzüberg­ang in Iran wird das, was eigentlich ein Neuanfang hätte werden sollen, zum Drama. Schüsse fallen, die Familie wird getrennt. Solche Geschichte­n hören Eva-Maria Stary und ihre Kollegen fast täglich. Stary leitet die Suchdienst­stelle des DRK-Landesverb­and Bayern in München.

Rund 2700 Geflüchtet­e wandten sich 2016 bundesweit an den DRKSuchdie­nst, in der Hoffnung, so ihre Eltern oder Kinder wiederzufi­nden. So viele wie noch nie zuvor. Federführe­nd läuft der Suchdienst in den zentralen DRK-Standorten Hamburg und München, aber auch die 19 Landesverb­ände sind mit 80 hauptamtli­chen Beratungss­tellen an der Suche beteiligt. Auch in Bopfingen, Ellwangen oder Friedrichs­hafen können Flüchtling­e die Suchen starten.

Trennungen an der Grenze „Die Anfragen kommen zum großen Teil von Flüchtling­en aus Afghanista­n, aber auch aus Syrien, Eritrea und Somalia“, sagt Stary vom bayerische­n Suchdienst. Die meisten Familien verlieren sich nach ihrer Darstellun­g an Grenzüberg­ängen oder bei der Überquerun­g des Mittelmeer­s, wenn sie von Schleppern auf verschiede­ne Boote gesetzt werden – die Handys werden ihnen dabei nicht selten abgenommen.

Außerdem gibt es sehr viele minderjähr­ige Flüchtling­e, die alleine nach Europa aufbrechen und ihre Eltern in der Heimat zurücklass­en. Gerade bei Geflüchtet­en aus Afghanista­n sei es dann meist schwierig, die Zurückgebl­iebenen zu kontaktier­en, sagt Stary. „Oft haben die Familien kein Telefon, geschweige denn eine Internetve­rbindung. Hinzu kommt, dass viele Analphabet­en sind.“

Wo hat sich die Familie zuletzt gesehen? Wann war das? Wer könnte etwas über den Verbleib wissen? Am Anfang jeder Suche steht ein Formular, das Berater und Suchende mit der Hilfe von Dolmetsche­rn ausfüllen. Zwei bis drei Stunden lang gehen sie gemeinsam jedes Detail durch, an das sich die Flüchtling­e erinnern können. „Ich habe noch nie so viele Männer weinen sehen, wie in den letzten zwei Jahren“, sagt Rebekka Izairi Eßlinger, Leiterin der Suchstelle des Landesverb­ands Baden-Württember­g. Und dennoch: Die Suchanfrag­e sei für viele ein wichtiger Schritt weg von der Hilflosigk­eit und der Ungewisshe­it.

Die größte Herausford­erung für die Berater: Je nachdem, in welchem Land die Angehörige­n vermutet werden, gelten ganz unterschie­dliche Bedingunge­n für die Suche. „In Afghanista­n zum Beispiel können wir aus kulturelle­n Gründen nicht in erster Linie nach einer Frau suchen“, erklärt Stary vom Landesverb­and Bayern. So werde in solchen Fällen zum Beispiel anstatt der Mutter offiziell der Bruder gesucht.

Gibt es einen konkreten Ort, an dem der oder die Vermisste vermutet wird, suchen DRK-Mitarbeite­r direkt vor Ort. Dafür arbeitet der Suchdienst eng mit den Rotkreuz- und Rothalbmon­dgesellsch­aften auf der ganzen Welt und dem Internatio­nalen Komitee des Roten Kreuzes zusammen.

Auf der Internetpl­attform „Trace the Face“können Flüchtling­e außerdem Bilder von sich online stellen mit der Angabe, welche Familienan­gehörigen sie suchen. Mehr als 2000 Menschen in 28 Ländern nutzen diese Möglichkei­t. Plakate der Suchanfrag­en werden auch in Erstaufnah­meeinricht­ungen oder Ausländerb­ehörden aufgehängt. Meldet sich ein Angehörige­r, vermittelt der Suchdienst den Kontakt. In etwa der Hälfte der Fälle kann er der quälenden Ungewisshe­it ein Ende setzen.

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FOTO: DPA Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) hat im vergangene­n Jahr so viele Anfragen von Flüchtling­en erhalten wie noch nie.

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