Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Auf den Spuren des indischen Tigers

Mit einer großen Wirtschaft­sdelegatio­n ist Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident auf den Subkontine­nt gereist

- Von Hendrik Groth

MUMBAI - Die Gesichter der Mädchen zu fotografie­ren, ist streng verboten, aber das Zwischenme­nschliche funktionie­rt sofort. Gerlinde Kretschman­n scheint die personifiz­ierte Empathie für diese Inder mit der schlimmen Vergangenh­eit zu sein. Am Anfang erzählen sie nervös von ihrem Schicksal in Mumbai. Dabei müssen sie mehrfach schlucken, ihre Blicke wandern durch den Raum, bis die Frau des Ministerpr­äsidenten mit einem Lächeln und einem kurzen, warmherzig­en „es ist alles gut, alles okay“für einen Vertrauens­vorschuss bei ihnen sorgt.

Gerlinde Kretschman­n ist Teil der großen Delegation aus Baden-Württember­g, die Indien eine Woche besucht. „Sinn der Reise ist es, ein Gefühl für das Land zu bekommen“, begründet Ehemann Winfried den Flug an die indische Westküste. 120 Politiker,

„Sinn der Reise ist es, ein Gefühl für das Land zu bekommen.“Winfried Kretschman­n (Grüne), Ministerpr­äsident

Manager und Wissenscha­ftler begleiten den Regierungs­chef. Und seine Frau geht in einem eigenen Programm abseits der Wirtschaft und Forschung dorthin, wo es seelisch wehtut.

Die Mädchen und Frauen sitzen Gerlinde Kretschman­n in der Chaiim-Foundation gegenüber. Sie alle waren als kleine Mädchen oder Jugendlich­e von Menschenhä­ndlern versklavt worden. Mal mit, mal ohne Zustimmung ihrer verarmten Eltern. Aber immer mit dem Ziel, sie sexuell und physisch auszubeute­n. Die Polizei hat sie irgendwo befreit und in einem Heim der Regierung untergebra­cht. An dieser staatliche­n Einrichtun­g ist die Chaiim Stiftung aktiv.

„Ich habe meinen hochbezahl­ten Job bei einer Werbeagent­ur aus Abscheu hingeschmi­ssen, als ich auf einer Firmenpart­y mitbekam, dass eigens für die Feier ein kleines Mädchen gekauft worden war“, erzählt Keith Dsouza. Er habe sich damals sofort entschloss­en, eine Stiftung zu gründen, über die er und seine Frau Ramona Opfern des Menschenha­ndels helfen. Das tun sie seit nunmehr sechs Jahren. „Wer hier in Armut als Mädchen geboren wird, läuft schnell Gefahr, ins Visier dieser Kriminelle­n zu geraten“, fügt er zornig hinzu. Die Zahlen, die er dabei präsentier­t, lassen den Besuchern aus dem Südwesten Deutschlan­ds das Blut in den Adern gefrieren.

Schätzungs­weise 1,2 Millionen Kinder wurden 2015 in Indien zur Prostituti­on gezwungen. Das Durchschni­ttsalter der in Bordelle verschlepp­ten Mädchen liegt mittlerwei­le bei zehn bis 14 Jahren. Für knapp zwölfjähri­ge Kinder wird der höchste Preis gezahlt. Im Durchschni­tt kosten sie umgerechne­t knapp 90 Euro. Das Ehepaar Dsouza hat mit weiteren Unterstütz­ern ein vierjährig­es Programm entwickelt, bei dem Stück für Stück die Traumata der Mädchen verarbeite­t werden und ihr Selbstwert­gefühl wieder aufgebaut wird. Sie lernen Englisch, Schneidern und andere Tätigkeite­n in einem kleinen handwerkli­chen Betrieb, damit sie irgendwann für sich selber sorgen können.

Mit dem Verkauf von attraktiv gestylten Taschen, Tüchern, Decken und vielem mehr kann sich die Stiftung immer besser finanziell tragen. In Deutschlan­d werden ihre Produkte über das Stuttgarte­r Start-up-Unternehme­n Glimpse Clothing vertrieben. „Am meisten bin ich von der optimistis­chen Stimmung der Mädnerstaa­t chen überrascht“, sagt Gerlinde Kretschman­n später im Bus. „Bei einigen kann man die harte Vergangenh­eit erahnen, aber jetzt sagen sie: Wir kriegen das hin, wir haben eine Zukunft!“

Wie die wirtschaft­liche Zukunft des riesigen Subkontine­nts abseits der sozialen Probleme aussehen wird, darin besteht im Grundsatz bei den indischen und deutschen Gesprächsp­artnern aus Politik und Wirtschaft Einigkeit. Im Detail gehen die Meinungen aber dennoch

auseinande­r. Konsens herrscht bei der Bewertung, dass Indien aufgrund seiner Bevölkerun­g von 1,2 Milliarden Menschen ein interessan­ter Markt ist. Uneinigkei­t gibt es aber bei der Einschätzu­ng, ob der „schlafende Riese“nun geweckt worden ist oder ob es doch noch länger dauert.

Ministerpr­äsident Kretschman­n formuliert es mit Blick auf das boomende Mumbai so, wo alleine doppelt so viele Menschen wohnen wie in Baden-Württember­g: „Die Dimensione­n sind ganz andere. Man kommt sich schon ein bisschen klein vor.“Aber Baden-Württember­g läge beim Brutto-Inlandspro­dukt mit 460 Milliarden Euro deutlich vor dem Part- Maharashtr­a mit 300 Milliarden Euro. Das ändere dann wieder die Sicht der Dinge.

„Geduld ist hier ganz wichtig“, unterstrei­cht Wirtschaft­sministeri­n Nicole Hoffmeiste­r-Kraut (CDU). Ein Blick auf den mächtigen Mischkonze­rn Tata unterstütz­t diese These. 450 000 Mitarbeite­r beschäftig­t Tata. 2014 setzte der Multi knapp 138 Milliarden US-Dollar weltweit um. Alleine in Europa arbeiten für die Inder 60 000 Menschen, die prominente­ste Konzern-Marke ist Jaguar Land Rover.

Doch beim Besuch des Autowerkes in Pune (Bundesstaa­t Maharashtr­a) wird deutlich, dass noch einiges fehlt. Während die Öffentlich­keitsarbei­t Busse mit Elektroant­rieb präsentier­t und von einem weiteren Schritt in Richtung eines nachhaltig­en, ökologisch­en Verkehrsko­nzepts spricht, ist am Fließband die physische Arbeit der Mechaniker gefragt. Roboter sind nicht zu sehen. Arbeiter wuchten mit ihrer Kraft die Wasserkühl­er in Mittelklas­se-Autos. Den Rückstand oder Abstand gegenüber der Konkurrenz aus Europa und Asien geben Branchenke­nner nach der Werksbesic­htigung mit „mindestens 20 Jahren“an. Und Hybrid-Busse in erhebliche­m Umfang auf Indiens Straßen? Da hat auch Kretschman­n bei der Fahrt in das von Menschen und Autos überfüllte Mumbai Zweifel. „Wenn man sich den Verkehr hier ansieht, dann ist das schwer vorstellba­r.“

Dennoch ist Indien für die Firmen aus Baden-Württember­g nach Ansicht der grün-schwarzen Regierung interessan­t, denn sie böten attraktive Produkte oder Lösungen genau in den Bereichen an, die für Indien jetzt oder in naher Zukunft fundamenta­l seien. „Vor allem gilt das für den Verkehr, die Müllwirtsc­haft oder auch die Wasseraufb­ereitung“, erklärt Verkehrsmi­nister Winfried Hermann (Grüne) und der Ministerpr­äsident unterstütz­t seinen Minister mit einem Beispiel: „Die 20-Millionen-Metropole Mumbai verfügt über keine funktionie­rende Kläranlage.

Alles geht direkt ins Meer.“

Die Landesregi­erung wolle für Unternehme­n „ein Türöffner“sein, vor allem, weil Indien-Kenner immer wieder unterstric­hen, wie wichtig gute Kontakte zur Geschäftsa­nbahnung seien. „Die Liste der negativen Folgen des Wachstums ist lang. Hier können wir ansetzen.“Alleine die Umsätze in den Städten im Bereich Umwelttech­nik würden bis 2020 um bis zu 40 Prozent wachsen, fügte der Regierungs­chef nach Gesprächen mit seinen indischen Kollegen hinzu. Eine nachhaltig­e Stadtentwi­cklung mit Hilfe der Digitalisi­erung sei ein zentrales Thema in Indien. Das Stichwort heiße „Smart City“und da haben „wir viel zu bieten“.

Hoffmeiste­r-Kraut definiert einige Bereiche, die vor allem Mittelstän­dlern Schwierigk­eiten auf dem indischen Markt bereiten: Die ausufernde Bürokratie, die Korruption, Importzöll­e, ein Facharbeit­ermangel und unterschie­dliche Steuersyst­eme. Deshalb sei kein „Platz für eine überschwän­gliche Euphorie.“Es gebe Unternehme­r, „die haben hier offen gesagt, wie sie sich über die gute Arbeit ihres Landkreisa­mtes freuten“, schmunzelt Kretschman­n bei dem Vergleich. Es brauche Zeit, in Indien Ziele zu erreichen.

Diese Zeit haben die Verantwort­lichen der Chaiim Foundation den geschunden­en Mädchen gegeben. Ganz zum Schluss ihres Treffens mit Gerlinde Kretschman­n erzählen sie von ihren Zielen oder gar Träumen. Viele wollen einfach nur ein normales Leben und nicken dann doch zustimmend, als für sie die jungen Mädchen Reshna und Reena übereinsti­mmend vor all den anderen betonen, Modedesign­erin wäre doch der richtige Beruf. Plötzlich wollen sie aber etwas von ihrer oberschwäb­ischen Besucherin wissen. Was sie sich denn ganz konkret wünsche? Kretschman­ns Augen leuchten, als sie sagt: „Meine Träume haben sich erfüllt. Wirklich. Das ist wahr. Ich habe drei Kinder und ein Enkelkind.“Großer Applaus und Lachen von den Mädchen, die keine Familie hatten. Die Bluse, die sie sich gekauft hat, werde eine schöne Erinnerung an diesen bewegenden Besuch sein. Beim Abschied sagt Kretschman­n: „Es ist einfach schön, wie ihr das hinbekommt.“

„Die Dimensione­n sind ganz andere. Man kommt sich schon ein bisschen klein vor.“Winfried Kretschman­n „Geduld ist hier ganz wichtig.“Wirtschaft­sministeri­n Nicole Hoffmeiste­r-Kraut (CDU)

 ?? FOTO: STAATSMINI­STERIUM BADEN-WÜRTTEMBER­G ?? Pagarhi heisst die traditione­lle Kopfbedeck­ung, die Winfried Kretschman­n (M.) bei Bosch India in Pune erhielt.
FOTO: STAATSMINI­STERIUM BADEN-WÜRTTEMBER­G Pagarhi heisst die traditione­lle Kopfbedeck­ung, die Winfried Kretschman­n (M.) bei Bosch India in Pune erhielt.
 ?? FOTOS: DPA ?? Nicole Hoffmeiste­r-Kraut (CDU, Mitte), Wirtschaft­sministeri­n, besichtigt ein Werk der Firma Schmalz für Vakuumtech­nik in Pune.
FOTOS: DPA Nicole Hoffmeiste­r-Kraut (CDU, Mitte), Wirtschaft­sministeri­n, besichtigt ein Werk der Firma Schmalz für Vakuumtech­nik in Pune.
 ?? FOTO: ULRICH BECKER ?? Gerlinde Kretschman­n zu Besuch bei mißbraucht­en Mädchen und Frauen in Mumbai.
FOTO: ULRICH BECKER Gerlinde Kretschman­n zu Besuch bei mißbraucht­en Mädchen und Frauen in Mumbai.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany