Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Auf den Spuren des indischen Tigers
Mit einer großen Wirtschaftsdelegation ist Baden-Württembergs Ministerpräsident auf den Subkontinent gereist
MUMBAI - Die Gesichter der Mädchen zu fotografieren, ist streng verboten, aber das Zwischenmenschliche funktioniert sofort. Gerlinde Kretschmann scheint die personifizierte Empathie für diese Inder mit der schlimmen Vergangenheit zu sein. Am Anfang erzählen sie nervös von ihrem Schicksal in Mumbai. Dabei müssen sie mehrfach schlucken, ihre Blicke wandern durch den Raum, bis die Frau des Ministerpräsidenten mit einem Lächeln und einem kurzen, warmherzigen „es ist alles gut, alles okay“für einen Vertrauensvorschuss bei ihnen sorgt.
Gerlinde Kretschmann ist Teil der großen Delegation aus Baden-Württemberg, die Indien eine Woche besucht. „Sinn der Reise ist es, ein Gefühl für das Land zu bekommen“, begründet Ehemann Winfried den Flug an die indische Westküste. 120 Politiker,
„Sinn der Reise ist es, ein Gefühl für das Land zu bekommen.“Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident
Manager und Wissenschaftler begleiten den Regierungschef. Und seine Frau geht in einem eigenen Programm abseits der Wirtschaft und Forschung dorthin, wo es seelisch wehtut.
Die Mädchen und Frauen sitzen Gerlinde Kretschmann in der Chaiim-Foundation gegenüber. Sie alle waren als kleine Mädchen oder Jugendliche von Menschenhändlern versklavt worden. Mal mit, mal ohne Zustimmung ihrer verarmten Eltern. Aber immer mit dem Ziel, sie sexuell und physisch auszubeuten. Die Polizei hat sie irgendwo befreit und in einem Heim der Regierung untergebracht. An dieser staatlichen Einrichtung ist die Chaiim Stiftung aktiv.
„Ich habe meinen hochbezahlten Job bei einer Werbeagentur aus Abscheu hingeschmissen, als ich auf einer Firmenparty mitbekam, dass eigens für die Feier ein kleines Mädchen gekauft worden war“, erzählt Keith Dsouza. Er habe sich damals sofort entschlossen, eine Stiftung zu gründen, über die er und seine Frau Ramona Opfern des Menschenhandels helfen. Das tun sie seit nunmehr sechs Jahren. „Wer hier in Armut als Mädchen geboren wird, läuft schnell Gefahr, ins Visier dieser Kriminellen zu geraten“, fügt er zornig hinzu. Die Zahlen, die er dabei präsentiert, lassen den Besuchern aus dem Südwesten Deutschlands das Blut in den Adern gefrieren.
Schätzungsweise 1,2 Millionen Kinder wurden 2015 in Indien zur Prostitution gezwungen. Das Durchschnittsalter der in Bordelle verschleppten Mädchen liegt mittlerweile bei zehn bis 14 Jahren. Für knapp zwölfjährige Kinder wird der höchste Preis gezahlt. Im Durchschnitt kosten sie umgerechnet knapp 90 Euro. Das Ehepaar Dsouza hat mit weiteren Unterstützern ein vierjähriges Programm entwickelt, bei dem Stück für Stück die Traumata der Mädchen verarbeitet werden und ihr Selbstwertgefühl wieder aufgebaut wird. Sie lernen Englisch, Schneidern und andere Tätigkeiten in einem kleinen handwerklichen Betrieb, damit sie irgendwann für sich selber sorgen können.
Mit dem Verkauf von attraktiv gestylten Taschen, Tüchern, Decken und vielem mehr kann sich die Stiftung immer besser finanziell tragen. In Deutschland werden ihre Produkte über das Stuttgarter Start-up-Unternehmen Glimpse Clothing vertrieben. „Am meisten bin ich von der optimistischen Stimmung der Mädnerstaat chen überrascht“, sagt Gerlinde Kretschmann später im Bus. „Bei einigen kann man die harte Vergangenheit erahnen, aber jetzt sagen sie: Wir kriegen das hin, wir haben eine Zukunft!“
Wie die wirtschaftliche Zukunft des riesigen Subkontinents abseits der sozialen Probleme aussehen wird, darin besteht im Grundsatz bei den indischen und deutschen Gesprächspartnern aus Politik und Wirtschaft Einigkeit. Im Detail gehen die Meinungen aber dennoch
auseinander. Konsens herrscht bei der Bewertung, dass Indien aufgrund seiner Bevölkerung von 1,2 Milliarden Menschen ein interessanter Markt ist. Uneinigkeit gibt es aber bei der Einschätzung, ob der „schlafende Riese“nun geweckt worden ist oder ob es doch noch länger dauert.
Ministerpräsident Kretschmann formuliert es mit Blick auf das boomende Mumbai so, wo alleine doppelt so viele Menschen wohnen wie in Baden-Württemberg: „Die Dimensionen sind ganz andere. Man kommt sich schon ein bisschen klein vor.“Aber Baden-Württemberg läge beim Brutto-Inlandsprodukt mit 460 Milliarden Euro deutlich vor dem Part- Maharashtra mit 300 Milliarden Euro. Das ändere dann wieder die Sicht der Dinge.
„Geduld ist hier ganz wichtig“, unterstreicht Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU). Ein Blick auf den mächtigen Mischkonzern Tata unterstützt diese These. 450 000 Mitarbeiter beschäftigt Tata. 2014 setzte der Multi knapp 138 Milliarden US-Dollar weltweit um. Alleine in Europa arbeiten für die Inder 60 000 Menschen, die prominenteste Konzern-Marke ist Jaguar Land Rover.
Doch beim Besuch des Autowerkes in Pune (Bundesstaat Maharashtra) wird deutlich, dass noch einiges fehlt. Während die Öffentlichkeitsarbeit Busse mit Elektroantrieb präsentiert und von einem weiteren Schritt in Richtung eines nachhaltigen, ökologischen Verkehrskonzepts spricht, ist am Fließband die physische Arbeit der Mechaniker gefragt. Roboter sind nicht zu sehen. Arbeiter wuchten mit ihrer Kraft die Wasserkühler in Mittelklasse-Autos. Den Rückstand oder Abstand gegenüber der Konkurrenz aus Europa und Asien geben Branchenkenner nach der Werksbesichtigung mit „mindestens 20 Jahren“an. Und Hybrid-Busse in erheblichem Umfang auf Indiens Straßen? Da hat auch Kretschmann bei der Fahrt in das von Menschen und Autos überfüllte Mumbai Zweifel. „Wenn man sich den Verkehr hier ansieht, dann ist das schwer vorstellbar.“
Dennoch ist Indien für die Firmen aus Baden-Württemberg nach Ansicht der grün-schwarzen Regierung interessant, denn sie böten attraktive Produkte oder Lösungen genau in den Bereichen an, die für Indien jetzt oder in naher Zukunft fundamental seien. „Vor allem gilt das für den Verkehr, die Müllwirtschaft oder auch die Wasseraufbereitung“, erklärt Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) und der Ministerpräsident unterstützt seinen Minister mit einem Beispiel: „Die 20-Millionen-Metropole Mumbai verfügt über keine funktionierende Kläranlage.
Alles geht direkt ins Meer.“
Die Landesregierung wolle für Unternehmen „ein Türöffner“sein, vor allem, weil Indien-Kenner immer wieder unterstrichen, wie wichtig gute Kontakte zur Geschäftsanbahnung seien. „Die Liste der negativen Folgen des Wachstums ist lang. Hier können wir ansetzen.“Alleine die Umsätze in den Städten im Bereich Umwelttechnik würden bis 2020 um bis zu 40 Prozent wachsen, fügte der Regierungschef nach Gesprächen mit seinen indischen Kollegen hinzu. Eine nachhaltige Stadtentwicklung mit Hilfe der Digitalisierung sei ein zentrales Thema in Indien. Das Stichwort heiße „Smart City“und da haben „wir viel zu bieten“.
Hoffmeister-Kraut definiert einige Bereiche, die vor allem Mittelständlern Schwierigkeiten auf dem indischen Markt bereiten: Die ausufernde Bürokratie, die Korruption, Importzölle, ein Facharbeitermangel und unterschiedliche Steuersysteme. Deshalb sei kein „Platz für eine überschwängliche Euphorie.“Es gebe Unternehmer, „die haben hier offen gesagt, wie sie sich über die gute Arbeit ihres Landkreisamtes freuten“, schmunzelt Kretschmann bei dem Vergleich. Es brauche Zeit, in Indien Ziele zu erreichen.
Diese Zeit haben die Verantwortlichen der Chaiim Foundation den geschundenen Mädchen gegeben. Ganz zum Schluss ihres Treffens mit Gerlinde Kretschmann erzählen sie von ihren Zielen oder gar Träumen. Viele wollen einfach nur ein normales Leben und nicken dann doch zustimmend, als für sie die jungen Mädchen Reshna und Reena übereinstimmend vor all den anderen betonen, Modedesignerin wäre doch der richtige Beruf. Plötzlich wollen sie aber etwas von ihrer oberschwäbischen Besucherin wissen. Was sie sich denn ganz konkret wünsche? Kretschmanns Augen leuchten, als sie sagt: „Meine Träume haben sich erfüllt. Wirklich. Das ist wahr. Ich habe drei Kinder und ein Enkelkind.“Großer Applaus und Lachen von den Mädchen, die keine Familie hatten. Die Bluse, die sie sich gekauft hat, werde eine schöne Erinnerung an diesen bewegenden Besuch sein. Beim Abschied sagt Kretschmann: „Es ist einfach schön, wie ihr das hinbekommt.“
„Die Dimensionen sind ganz andere. Man kommt sich schon ein bisschen klein vor.“Winfried Kretschmann „Geduld ist hier ganz wichtig.“Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU)