Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Weltreisender auf Städte-Tour
Ansichtssachen: Georg Forster bereist den Rhein am Vorabend der Revolution
Die Menschen vom Niederrhein wissen nichts, können aber alles erklären.“Hanns Dieter Hüsch, der Deutschlands reisefreudigster Kabarettist war, servierte reichlich „Ansichten vom Niederrhein“. Georg Forster (1754-1794), der mit Hüsch den Wohnort Mainz teilte, hat diesen Titel gewählt, weil er doppeldeutig ist: Er meint das Erfahrbare wie die Gedanken darüber. Die Rheinreise führte Forster von Mainz bis zur Mündung. Für Stadtbesichtigungen wich er vom Flusslauf ab und besuchte Brüssel, Antwerpen, Amsterdam.
Goethe hatte dieses Buch gelobt für seine geschulte, breit angelegte Wahrnehmung. Forster war eine der kundigsten Persönlichkeiten seiner Zeit. Als Jugendlicher hatte er Kapitän Cook auf seiner Weltumseglung begleitet. Und nun, auf der Jacht am Rhein, widmet er sich gleich im Rheingau dem „Einfluss der mineralischen Bestandteile des Erdreichs auf die Eigenschaften des Weins“. Aktueller könnte er gar nicht sein. Auch heute stürzt sich das WeinMarketing aufs „Terroir“.
Vom Terroir zum Terreur: Die Rheinreise fand 1790 statt, in den letzten Tagen des Alten Reichs, bevor das revolutionäre Frankreich auf seine Nachbarn übergriff. Die Revolution hat die Welt, die er bereiste, schnell verändert. Auch Forsters Leben. Es endete mit 39 Jahren in Paris, in den Tagen der Schreckensherrschaft.
Als Forster die Reise unternahm, war er Bibliothekar der Universität in Mainz, Herr über 50 000 Bände. Das Kurfürstentum war in seinen letzten Jahrzehnten ein aufgeklärtes Staatsgebilde, die Universität beschäftige auch protestantische Professoren, Forster war nicht der Einzige. Einige wurden Anhänger der Französischen Revolution. Als deren Truppen 1792 die Stadt besetzten, wurde Forster Mitglied im Jakobiner-Klub und Vize-Präsident des Konvents. Der stimmte für den Anschluss der jungen Mainzer Republik an Frankreich. Forster reiste nach Paris, um diesen Beschluss vorzutragen. Während er dort redete, kapitulierten die Franzosen in Mainz vor den Bomben der Preußen. Mit der Republik war es vorbei.
Die „Ansichten vom Niederrhein“sind Beschreibungen von Städten und Landschaften, von Land und Leuten, von Geologie und Ethnologie. Kunsthistorisch wird das Kapitel über den Kölner Dom bedeutsam. Forster ist von dem „herrlichen Tempel“, der damals noch ohne die Türme dastand, derart begeistert, dass er die Baupläne ausgräbt: „Wenn schon der Entwurf, in Gedanken ergänzt, so mächtig erschüttern kann, wie hätte dann die Wirklichkeit ausgesehen.“Dieser Satz wurde 50 Jahre später das Motto des Dombau-Vereins, der die Vollendung vorantrieb.
So sehr Forster den Dom „als Zeugnis der schöpferischen Kraft des Menschen“bewundert, so sehr dreht er die Stadt durch den Wolf. Er setzt sie gegenüber Frankfurt ab, das ihm den Eindruck allgemeinen Wohlstands machte. Köln hingegen, schreibt Forster, lebt aus dem Gegensatz von verdecktem Reichtum und zur Schau gestellter Bettelei.
Kritik an Köln Forster hat Köln damals nicht zum ersten Mal gesehen. Sein Vergleich der beiden Handelsstädte illustriert, was man zu seiner Zeit eine „gute Polizey“nannte: ein Gemeinwesen mit rechtlich geordnetem Zusammenleben und allgemeiner Wohlfahrt. Das harsche Urteil über die organisierte Bettelei könnte den Verdacht aufkommen lassen, dass Forster kein Mitgefühl hätte. Das trifft nicht zu. Die Leser haben mit ihrem Reiseführer auf dem Weg nach Köln bereits Koblenz passiert und dort die Festung Ehrenbreitstein besucht, die als Gefängnis diente. Das Erlebnis der Aussicht auf Rhein und Mosel, das sie bis heute bietet, wird für Forster zunichte gemacht durch die Lage der Gefangenen, die in den Verliesen mit ihren Ketten rasseln. Deren Los beschreibt er einfühlsam.
In Köln entdeckt Forster einen weiteren Gegensatz. Kirchen und Altäre gibt es in der Stadt in „so ungeheurer Zahl, dass es meinen Glauben übersteigt“. Umso verwunderlicher, dass es für Protestanten keinen Andachtsraum gibt. Der Magistrat hatte die freie Religionsausübung genehmigt, dann nach einem Aufruhr wieder zurückgenommen. Forster begreift die Bettler, die die Hälfte der Stadtbevölkerung ausmachen, nicht als Armut im Naturzustand, sondern als schlechte Organisation der Gesellschaft. Er nennt sie die „Miliz der Kleriker, die sie durch kärglich gespendete Lebensmittel in Sold halten und gegen den Magistrat aufwiegeln, sobald er ihren Absichten zuwiderhandelt“. Die Beschreibung treibt der Pointe entgegen: „Es ist gleichviel, ob ein Despot oder eine Herde von Bettlern die Freiheit der Bürger vernichtet.“
Die Reisebeschreibung speist sich aus Briefen, die Forster von Station zu Station seiner Frau schrieb (um die Ehe stand es nicht gut) und später überarbeitete. Auch die neue Ausgabe lebt von Vorarbeit. Die leistete die DDR. Denn das Interesse für Forster war in Deutschland lange geteilt. Die Gesamtausgabe des Zentralinstituts für Literaturgeschichte in Ost-Berlin ist heute herrenlos und bildet die Textgrundlage der Neuausgabe. Neu ist die Einleitung von Jürgen Goldstein, der 2016 eine Forster-Biografie vorgelegt hat. Und die bibliophile, mit alten Ansichten illustrierte Aufmachung des Bandes.