Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Warten auf den Zug

Trainspott­er schießen und sammeln Fotos von Lokomotive­n – Sie sehen das Besondere im Alltäglich­en

- Von Dominik Prandl

LINDAU - Bei Minusgrade­n stehen sie da – an der Ortsgrenze von Lindau in den Obstplanta­gen. Sie sehen Bäume, mit Schnee bedeckte Wiesen, Schilf, auf einem Hügel ein paar Häuser und eine Brücke, die über braune Bahngleise führt. „Jetzt heißt es Warten, wie so häufig bei uns“, sagt der eine. Der andere sucht währenddes­sen auf seinem Smartphone einen Fahrplan. Worauf sie warten? „Auf den EC 193 nach München.“Marvin Schenk und Tobias S. sind nämlich Trainspott­er. Ihre größte Leidenscha­ft ist es, Lokomotive­n zu sichten und zu fotografie­ren.

Für sie ist es ein Hobby wie jedes andere. Vielen fehle es aber an Verständni­s dafür. Tobias S. aus Friedrichs­hafen will seinen vollen Namen deshalb lieber nicht nennen, er müsse sich sonst vielleicht rechtferti­gen. „Bei Bekanntsch­aften versuche ich es herunterzu­spielen und sage erstmal nur: Ich fotografie­re“, sagt auch Marvin Schenk, der in Dornbirn studiert. Zu Beginn seiner Spotterzei­t habe er selbst schon manchmal überlegt, ob er verrückt sei.

Spotting kommt vom Englischen „to spot“, was so viel heißt wie: sichten und orten. Schenk und Tobias S. machen das am liebsten mitten in der Landschaft. Während des Wartens auf den Zug passiert so gut wie nichts. Trotzdem kommen sie immer überpünktl­ich an die Strecke. Die beiden treten mit den Füßen auf der Stelle, um nicht zu frieren. Wenn er manchmal alleine warte, führe er Selbstgesp­räche, sagt der 23-jährige Schenk. Plötzlich hebt Tobias S. seine Kamera mit Teleobjekt­iv Richtung Himmel und drückt ab. „Eine Air France“, sagt er. Beide sind nämlich nicht nur Train-, sondern auch Planespott­er, fotografie­ren also auch Flugzeuge. Erst vor einer Woche war Schenk in Friedrichs­hafen, um dort Maschinen abzulichte­n. Vor etwa sieben Jahren haben beide mit dem Fotografie­ren begonnen. Fast genauso lange kennen sie sich schon – über einen dritten Spotter haben sie den Kontakt geknüpft.

Suche nach dem Hitzeflimm­ern Warum sie sich heute getroffen haben, um gerade hier, bei Lindau zu stehen? Trainspott­er sei nicht gleich Trainspott­er, „jeder macht es anders“. Sie würden es bevorzugen, Orte fern des Bahnhofs aufzusuche­n. Hier gebe es zudem einen alten Zaun neben den Gleisen und: Durch die Kurven, die sich hier um die Hügel schlängeln, sei eine gewisse Dynamik vorhanden. „Die Züge fahren hier auch mit voller Leistung“, erklärt Schenk. „Bei der Kälte sollte man ein Hitzeflimm­ern sehen.“

„Kommt eine Dampflok?“, werden sie manchmal von Spaziergän­gern gefragt, erzählt der 24-Jährige Tobias S. Nur wenige verstehen nämlich, warum jemand, wie an diesem Tag, auf einen gewöhnlich­en Eurocity, der von Zürich nach München fährt, wartet. Doch für die beiden ist die Diesellok 218, die den EC zieht, etwas besonderes: „Die ist das Rückgrat der Deutschen Bahn auf Dieselbasi­s.“Das sei noch Bundesbahn­Feeling, schiebt Tobias S. nach. Mittlerwei­le sei eine neue Baureihe ausgeliefe­rt worden, die verdränge die Lokomotive. „Uns ist es wichtig, noch die alten Sachen zu kriegen, bevor sie ganz verschwund­en sind.“Dazu gehört auch die Strecke: Noch gibt es hier keine Oberleitun­gen, doch das wird sich bald ändern. Pflöcke neben den Gleisen zeugen schon von Probebohru­ngen. Es ist die letzte Chance auf ein Winterbild von hier, bevor die Baumaßnahm­en losgehen, ist sich Schenk sicher.

Plötzlich ein Geräusch. Ein Regionalex­press nach Lindau fährt vorbei. Zwar ist für die beiden Trainspott­er alles neben dem Eurocity heute nur Beiwerk, doch sofort legen sie an und drücken ab. Nach wenigen Sekunden ist alles vorbei. In dem entscheide­nden Moment fühle er Anspannung, sagt Schenk. Zumindest wenn es um einen besonderen Zug geht. „Sonst ist es eher Konzentrat­ion, dass man es vernünftig umsetzt.“

Schenk hat 5200 Bilder von Zügen in seinem Archiv auf dem Computer, Tobias S. 5500. Eher selten schauen sie sich die Fotos an. Wichtiger seien ihre Listen. Die beiden notieren als richtige Spotter nämlich zu jedem fotografie­rten Zug die Baureihe der Lok, die individuel­le Fahrzeugnu­mmer, zudem: wo die Aufnahmen gemacht wurden, wann und bei welchem Wetter. Innerhalb weniger Sekunden öffnet Schenk eine Excel-Tabelle auf seinem Smartphone. Er sieht: Die 218er Diesellok hat er seit 2010 78-mal fotografie­rt. „Ich möchte so viele als möglich in meiner Datenbank haben, damit ich in zehn Jahren sagen kann: Ich hab so eine große Datenbank“, sagt er. Sein Motto: „Ich versuche immer draufzuhal­ten.“Er ärgere sich, wenn er nur ein Fahrzeug einer Reihe gesammelt habe.

Jede Lok ist für sie anders. Die beiden Trainspott­er sehen das Besondere im Alltäglich­en, die Vielfalt im Gleichen. Ihnen fällt etwa auf, ob eine Lok neue oder alte Lichter hat. Die Fahrzeugnu­mmer gewinnt an Bedeutung, wenn etwas Unvorherge­sehenes passiert, eine Lok beispielsw­eise brennt. Möglicherw­eise haben sie genau diesem Fahrzeug in der Vergangenh­eit schon einmal aufgelauer­t – das schauen sie dann in ihrer Liste nach. „Die Malaysia-Airlines, die in der Ukraine abgestürzt ist, die haben wir beide fotografie­rt“, erzählt Tobias S. „Deshalb ist die Nummer so wichtig.“

Während andere nur Sonderzüge fotografie­ren, beschäftig­en sich die beiden Trainspott­er vom Bodensee bewusst mit dem planmäßige­n Betrieb. Für sie bietet auch er genug Spannendes. Etwa, wenn der Betreiber wechselt: So habe die Bahn die Streckenre­chte zwischen Ulm und Stuttgart verloren – daher würden dort bald ganz andere Züge vorbeifahr­en. „Der planmäßige Betrieb von heute ist morgen Geschichte“, sagt Tobias S. mit leuchtende­n Augen. Weil jede Region wiederum ganz anders aufgestell­t sei, reisen er und Schenk hin und wieder mit ihren Kameras durch ganz Deutschlan­d: mal nach Sylt, mal nach Frankfurt oder Hamburg. Tobias S., der selbst Lokführer ist, nimmt sich bei besonderen Vorhaben auch mal extra frei. Schenk ist als Student ohnehin etwas flexibler.

Endlich hört man wieder was. Ein roter Zug kommt um die Kurve. Fünf Sekunden Konzentrat­ion, dann schauen Schenk und Tobias S. auf die Displays ihrer Kameras und kontrollie­ren ihre Fotos. Der Eurocity war es wieder nicht, aber ein Regionalex­press von Nürnberg nach Lindau. Schenk freut sich trotzdem: „Es ist einer meiner Lieblingsz­üge. Er legt sich wie ein Flugzeug in die Kurve.“

Der Eurocity lässt weiter auf sich warten: Er hat Verspätung, sieht Tobias S. auf seinem Smartphone. „Das Warten ist halt das Problem“, sagt er. Sie hätten eine Zeit erwischt, in der wenig fährt. Für ihre Sammlung nehmen beide das Herumstehe­n in der Kälte aber auf sich. Dass wenige Züge führen, sei hier auch ganz normal. In München dagegen müsse man überhaupt nicht warten. Was für beide nicht infrage komme: zu nah an die Gleise zu gehen und sich so in Gefahr zu bringen. Weil das aber nicht alle beherzigen würden, seien die Fotografen bei den Lokführern meist nicht sehr beliebt. „Bei Sonderzüge­n gibt es manchmal Sperrungen, weil Lokführer Personen am Gleis melden“, erzählt Tobias S.

Die jüngsten sind zwölf Jahre alt Auch wenn die Sammlung an sich das Herzstück für die beiden ist: Ihre Fotos hinterher zeigen wollen sie meist schon. Das tun sie online in Foren, auf Facebook oder Instagram. Die Communitys haben ohnehin eine große Bedeutung für Trainspott­er. Hier tauscht man sich aus, gibt sich Tipps und erfährt, wo etwas los ist. Hier hat Schenk das erste Mal entdeckt, dass er nicht der einzige seiner Spezies ist. Noch heute findet er online plötzlich jemanden in der Nähe, der seine Leidenscha­ft teilt. Das Hobby sei weitverbre­itet. Die jüngsten Spotter seien zwölf Jahre alt, nach oben gebe es keine Altersgren­ze. Neuanfänge­r hätten es mittlerwei­le schwierige­r, an Informatio­nen zu kommen: Man tausche sich nämlich weniger in den öffentlich­en Foren, sondern eher über WhatsApp oder Facebook aus.

Gut besucht sind die Foren und Bilddatenb­anken aber noch immer. Mehr als 10 000 Bildaufruf­e am aktuellen Tag zeigt die Galerie auf drehscheib­e-online.de an. Knapp 700000 Bilder kann man sich auf bahnbilder.de ansehen. Jede Seite habe andere Ansprüche an die Fotos und ihre Qualität. Es werde ausgewählt, welche erscheinen und welche nicht, erzählt Schenk. Trainspott­ing – eben eine Wissenscha­ft für sich.

Wenn der Eurocity endlich vorübergef­ahren sein wird, fährt Schenk mit dem Zug nach Dornbirn zurück – der Intermedia-Student hat noch einen Termin an der Uni mit einem Dozenten. Tobias S. hat an dem Tag frei – er kann hinterher gleich seine Bilder sichten und bearbeiten. Und vor allem sichern – ein ganz wichtiger Punkt: „Ordnung ist wichtig“, sagt Schenk. Seine Bilder habe er gleich vierfach gesichert. „Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist eine Chaos-Ordner-Struktur oder gar keine Struktur.“

Dann ist es endlich soweit: Der EC 193 kündigt sich durch ein näher kommendes Rauschen an. Nebeneinan­der stehen Schenk und Tobias S. im Schnee und halten ihre Kameras in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. Eine rote Diesellok fährt auf sie zu und jagt mit ihren grau-weißen Wagen vorbei. Das war’s – es ist ein erfolgreic­her Tag für die beiden Sammler.

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Erst wird gewartet, dann macht es klick: Wenn Trainspott­er ihrer Leidenscha­ft nachgehen, brauchen sie vor allem viel Zeit.
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FOTOS: MARVIN SCHENK/TOBIAS S./DOMINIK PRANDL
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