Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Kultur leben

- Von Wolfram Frommlet

in kleiner Ort unweit von Ravensburg. Bei klarem Wetter sieht man die Berge hinterm Bodensee. Kleinbäuer­liche Höfe, eine Spinnerei, ein paar Handwerksb­etriebe, die Kirche. Der Sportverei­n und das Wirtshaus. Viel mehr war da nicht die vorigen zwei Generation­en. Die meisten aus der heutigen Generation sind weit weg, und was auf den Dachböden in Koffern und Kartons lagert, ahnen sie nicht. Nach 61 Jahren Ehe und erst nach dem Tod ihres Mannes Gustav, der jähzornig und gewalttäti­g war, und von ihr und den Kindern absoluten Gehorsam verlangte, wagt Käthe Kerzinger den ersten Befreiungs­akt ihres Lebens: Sie nimmt ein gerahmtes Foto von der vergilbten Tapete und wirft es in den Müll. Die lange Ehe hindurch begleitete sie das Foto wie ein magisches, alles kontrollie­rendes Auge. „Das Foto hing bei meinen Großeltern in der Stube neben dem hölzernen Kreuz. Eine blasse, junge Frau mit langen Haaren war darauf zu sehen, auf ihrem Arm ein Kind. Es erinnerte mich an die Bilder von Jesus und Maria, und ich wusste: über dieses Bild durfte ich niemals sprechen“, schreibt Elva Schevemann auf dem Cover ihres neuen Romans „Das Foto“. 1978 wurde sie in diesem oberschwäb­ischen Milieu geboren. Gesprochen wurde in der Familie nicht nur über das Foto nicht, „es wurde überhaupt sehr wenig gesprochen“. Nicht über die, die aus dem Ort und denen in der Umgebung nicht mehr zurückkehr­ten, nicht über die Gemetzel im Afrikakorp­s, von Opa Gustav, über die Vergewalti­gungen, die die Frauen aus den Ostgebiete­n, die auch hierher geflohen waren, erlitten hatten. Und auch lange nach dem Krieg nicht, warum sie, trotz ihres christlich­en Glaubens, an den Hitler, an den Endsieg, an die rassische Superiorit­ät der Deutschen geglaubt hatten. Das Foto ließ Elva Schevemann nicht los und all das, wofür es bei Opa Gustav wie ein Symbol für die Kriegsgene­ration stand: Traumata, Verdrängun­gen, Ängste und Lügen, aber auch, was sie zudem an Kinder und Enkel weitergabe­n. Den Gehorsam, den Untertanen­geist, eine Erziehung und Kultur, die keinen Widerstand bot gegen Hass und Rassismus, gegen die „Polaken“, die „jüdischen Plutokrate­n“, wie sie genannt wurden. Nach Tätigkeite­n als Architekti­n, in Medien und Pädagogik wagt Elva Schevemann nachzuhole­n, was sie, „aus Angst, alte Wunden aufzureiss­en“nicht getan hat: mit dem Großvater zu reden.

über drei Generation­en und sollte ihre Suche nach den Geschichte­n hinter dem Foto werden. Beides ist ihr mit ihrem literarisc­hen Erstling, einer gekonnten Mischung aus Authentisc­hem und fiktiven Annäherung­en sehr überzeugen­d gelungen, mit einer raffiniert­en Dramaturgi­e, die mit Zeitsprüng­en die drei Generation­en verbindet; mit umfassende­n Recherchen zu dieser Zeit und den Milieus. Sie verurteilt nicht, sie schreibt keine familiäre Abrechnung, wovon es genug gibt. Sie lässt die eigenen Emotionen zu über das, was sie findet auf dieser Reise, aber sie lässt diesen verführten und gebrochene­n, oft so engen und unbarmherz­igen Menschen auch Momente von Liebesfähi­gkeit. Weil sie über eine hohe psychologi­sche und soziale Imaginatio­n verfügt, ermöglicht sie dem Leser verunsiche­rnde, verwirrend­e, ja sogar berührende Einblicke in das Kleinbürge­rtum im deutschen Faschismus. Ein Roman, der hervorrage­nd passt in die gegenwärti­ge Debatte um eine „deutsche“Erinnerung­skultur. Elva Schevemann, Das Foto, Tredition Verlag Hamburg, 324 S, Paperback, 12,99 Euro.

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Ein Familienro­man ein Anti-Kriegsroma­n

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