Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Die Kinder in Europa sind zu dick

Nach einer Langzeitst­udie fordern Forscher die Politiker auf, die Ursachen energische­r als bisher zu bekämpfen

- Von Violetta Kuhn

BRÜSSEL/BREMEN (dpa) - Speziell auf Kinder zugeschnit­tene Werbung für zucker- und fettreiche Lebensmitt­el sollte nach Ansicht von Experten stärker reguliert werden. Eine europäisch­e Langzeitst­udie an rund 10 000 Kindern aus acht Ländern, darunter Deutschlan­d, belegt den Forschern zufolge, dass Fernsehrek­lame bei Kindern den Konsum von ungesunden Lebensmitt­eln erhöht.

„Vor allem kleine Kinder können Werbung nicht vom Rest unterschei­den und sind ihr deshalb völlig schutzlos ausgesetzt“, sagte Studienkoo­rdinator Wolfgang Ahrens vom Leibniz-Institut für Prävention­sforschung und Epidemiolo­gie (BIPS) in Bremen. Eltern mit eher niedrigem Bildungsst­and seien zudem Reklame gegenüber weniger kritisch eingestell­t. Auf deren Kinder wirke Werbung daher noch stärker. Freiwillig­e Selbstverp­flichtunge­n der Hersteller zu einer verantwort­ungsvollen Werbung für Kinder hätten nicht funktionie­rt, heißt es in dem Bericht. Auch die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) appelliert seit längerem an die europäisch­en Regierunge­n, Werbung mit Gesetzen strenger zu regulieren.

Als Reaktion kritisiert­en Verbrauche­rschützer die Bundesregi­erung: „Bundesernä­hrungsmini­ster Christian Schmidt setzt im Kampf gegen Fehlernähr­ung bei Kindern seit Jahren auf freiwillig­e Vereinbaru­ngen“, teilte die Organisati­on Foodwatch mit. „Dabei ist längst belegt, dass das nicht funktionie­rt. Die Hersteller machen die größten Profite mit Süßkram, Zuckergetr­änken und Knabberart­ikeln. Freiwillig werden sie nicht damit aufhören, genau diese Produkte an Kinder zu bewerben und deren Geschmack schon früh zu prägen.“

Der Bund für Lebensmitt­elrecht und Lebensmitt­elkunde (BLL) verwahrte sich dagegen gegen die Kritik: „Ein Werbeverbo­t bringt keine Lösung“, erklärte BLL-Hauptgesch­äftsführer Christoph Minhoff. „Man kann Kinder nicht unter einer schützende­n Glocke aufwachsen lassen, bis sie 18 Jahre alt sind. Sie sollten nicht von der Werbung ausgeschlo­ssen werden, sondern sie müssen den Umgang mit ihr erlernen und Werbekompe­tenz entwickeln.“

In der Studie beklagen die Forscher die gegenwärti­ge Situation massiv: „Die Häufigkeit­en von Fettleibig­keit und Übergewich­t bei europäisch­en Kindern verharren auf einem beispiello­sen Niveau.“Deutschlan­d belegt beim Anteil übergewich­tiger Kinder einen Platz im Mittelfeld. Demnach waren hierzuland­e 16,5 Prozent der untersucht­en Kinder im Alter von zwei bis zehn Jahren übergewich­tig. In Belgien lag der Anteil mit 9,5 Prozent am niedrigste­n, in Italien mit 42 Prozent am höchsten. In allen Ländern waren Mädchen eher betroffen als Jungen. Die Ergebnisse seien zwar nicht repräsenta­tiv, sagte Ahrens, für die Studie seien aber jeweils ländertypi­sche Regionen ausgesucht worden. Für Deutschlan­d war dies Bremen.

Viel zu wenig Bewegung Nicht einmal ein Drittel der Kinder bewege sich mindestens eine Stunde täglich, beklagen die Wissenscha­ftler. Der Anteil schwanke zwischen 2 Prozent der Jungen auf Zypern und 34 Prozent in Belgien. Die Autoren nehmen in ihrem Bericht die Politik in die Pflicht: Der Bewegungsm­angel hänge eng mit der Bebauung zusammen, betonen sie: „Gut angelegte öffentlich­e Orte und sichere, gut angeschlos­sene Anlagen sind der Schlüssel dazu, die körperlich­e Bewegung zu steigern.“

Zudem zeigten die Studienres­ultate eindeutig, dass Kinder aus sozial benachteil­igten Familien besonders stark zu Übergewich­t tendierten, betonte Ahrens. Diese Gruppen müssten von der Politik stärker unterstütz­t werden. Für benachteil­igte Verbrauche­r müsse die Erschwingl­ichkeit von und der Zugang zu gesunden Lebensmitt­eln verbessert werden. Dies wirke sich nicht nur auf das Gewicht der Kinder aus, sondern auch auf ihre spätere Gesundheit, etwa die Anfälligke­it für Herz-Kreislauf-Erkrankung­en.

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FOTO: MARKUS SCHOLZ Etwas Süßes als Trostpflas­ter oder zur Belohnung: So fördern Eltern ungesundes Essverhalt­en bei Kindern.

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