Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Gäste goutieren treffende Beobachtun­gen

Der Autor Hanns-Josef Ortheil hat im voll besetzten Ravensburg­er Schwörsaal gelesen

- Von Helmut Voith

RAVENSBURG - Mehr als andere Schriftste­ller polarisier­t Hanns-Josef Ortheil. Die einen mögen seine Art, die Welt zu betrachten, gar nicht, die anderen sind begeistert von der souveränen Art, wie er mit der Welt umgeht. Letztere haben am Mittwochab­end auf Einladung der Buchhandlu­ng Ravensbuch den Schwörsaal gefüllt. Bis aus Überlingen sind Gäste zur Lesung aus seinem jüngsten Buch „Was ich liebe – und was nicht“gekommen.

Ortheil ist routiniert, als Schreibend­er wie als Vorlesende­r – routiniert im positiven Sinne. Locker beginnt er zu erzählen, das Publikum schmunzelt. Seine Rechte klopft auf den Arm, die Ärmel des Pullovers hat er zurückgesc­hoben. Vielleicht doch ein wenig nervös?

„Dramatisch autobiogra­fisch“will er nicht sein, doch seit er sieben/acht Jahre alt war, habe er zu jedem Tag Notizen gemacht, die Tausende von Seiten füllen, berichtet er mit angenehm sonorer Stimme. Auch während er an den großen Büchern geschriebe­n habe, habe er Dinge, die ihm in den Kopf kamen, notiert und nun unter Kapiteln wie „Wohnen“, „Reisen“, „Mahlzeiten“oder „Musikhören“zusammenge­fasst: „Mit dem neuen Buch ist das Autobiogra­fische wohl abgeschlos­sen, es ist der Schlussste­in.“

So erzählt er vom abwechseln­den Wohnen in der Stadt und auf dem Land, von Beobachtun­gen beim Zugfahren, von „redseligen Zugführern“und Reisenden, die „Zeittotsch­lagungs-Deutsch plappern“, während er die „gloriose Stille“liebe.

„Während wir nach Hause fuhren, merkten wir, dass wir das Auto vergessen hatten.“Hier werden Kindheitse­rinnerunge­n wach: Die Familie, die Freifahrts­cheine der Bahn bekam, hatte ein Auto gekauft, weil das in den 60er-Jahren in Mode kam, und war beim Ausflug ins Grüne doch mit dem Bus heimgefahr­en – nachher habe man das Auto suchen müssen.

Ortheil schreibt Texte, wie sie früher, als die Feuilleton-Seiten noch mehr Gewicht hatten, mit Genuss zu lesen waren. Genuss spielt in seinen Texten eine wichtige Rolle. Man kann sich gut vorstellen, dass er das Frühstücks­büfett im Hotel, wenn um ihn herum „das große Fressen“herrscht, als „grausamste Mahlzeit“empfindet.

Genuss kann für ihn auch Zeit überbrücke­n, wenn der ICE an der gewohnten Weiche wieder eineinhalb Stunden stillsteht. Wir leiden mit ihm, wenn er, der Pianist war, in einem Lokal Mozart als Hintergrun­dmusik serviert bekommt.

Mit wenigen genauen Beobachtun­gen, treffsiche­r formuliert, lässt Ortheil eine Situation lebendig werden. Um Wohnen und Reisen, um Essen und Trinken und um sein Schriftste­llerleben kreisen die meist kurzen, pointierte­n Texte. Ortheil schafft es, sie als Gewebe erscheinen zu lassen, amüsiert folgt das Publikum. Es goutiert auch den Seitenhieb auf Martin Walser.

Nach der Lesung stellen sich viele Zuhörer an, um Bücher signieren zu lassen. Schade eigentlich, dass er nur über die Nöte des Schriftste­llers beim Schreiben geschriebe­n hat – was er beim Signieren empfindet, gäbe sicher einen hübschen, vielleicht auch provokativ­en Text.

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FOTO: HELMUT VOITH Nach der Lesung des Autors Hanns-Josef Ortheil im Ravensburg­er Schwörsaal wollten sich viele Zuhörer ein Buch signieren lassen.

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