Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Einer von hundert

Mit seiner Knochenmar­kspende eröffnet Philip B. aus Ehingen einem Leukämiekr­anken die Chance weiterzule­ben

- Von Roland Ray

ULM - Ein nebelverha­ngener Morgen im Winter. Die Semesterkl­ausuren an der Hochschule beginnen, doch ein Platz im Prüfungssa­al bleibt frei. Der BWL-Student Philip B. aus Ehingen, 22, hat an diesem Tag einen anderen Termin. Er liegt in einem OP der Universitä­tsklinik Ulm und lässt sich Knochenmar­k entnehmen. Die darin in hoher Konzentrat­ion enthaltene­n Blutstammz­ellen werden dringend gebraucht, um einem Leukämiepa­tienten das Weiterlebe­n zu ermögliche­n.

Vor vier Jahren hatte Philip sich an einer Typisierun­gsaktion beteiligt. Ein Abstrich im Mund, ein Spenderpas­s – das war’s zunächst. Die Wahrschein­lichkeit, je für eine Transplant­ation von Stammzelle­n infrage zu kommen, schien gering. „Meine Eltern waren damals schon mehrere Jahre registrier­t“, erzählt Philip. „Sie sind noch nie kontaktier­t worden.“

„Von 100 Menschen, die sich registrier­en lassen, wird im Lauf der Zeit durchschni­ttlich einer um Hilfe gebeten“, sagt Joannis Mytilineos, Leiter der Abteilung Transplant­ationsimmu­nologie am Institut für Klinische Transfusio­nsmedizin und Immungenet­ik Ulm. Etwa 11 400 Menschen erkranken nach seinen Angaben jährlich in Deutschlan­d an Leukämie. Für viele Betroffene ist eine Stammzells­pende die einzige Chance, den Blutkrebs zu besiegen.

Bei der Typisierun­g werden die Gewebemerk­male bestimmt. Die Ergebnisse wandern ohne Personenda­ten in elektronis­che Verzeichni­sse und können von Kliniken und Suchdienst­en rund um den Erdball abgerufen werden. Durch die Digitalisi­erung geht das heute ungleich schneller als früher, die Ärzte gewinnen wertvolle Zeit. Je genauer die Gewebemerk­male des Stammzells­penders mit denen des Leukämiekr­anken übereinsti­mmen, desto besser die Erfolgsaus­sicht einer Transplant­ation. Fast 7,2 Millionen potenziell­e Spender sind aktuell im zentralen deutschen Knochenmar­kspenderre­gister (ZKRD) erfasst, weltweit etwa 28 Millionen. Dem nationalen Register fällt mithin eine wichtige Rolle zu.

Post von der Spenderdat­ei Rund eineinhalb Jahre nach der Registrier­ung erhält Philip Post von der Deutschen Stammzells­penderdate­iSüd (DSSD) in Ulm. Er ist in der engeren Wahl für eine Spende. Doch es stellt sich heraus, dass andere Kandidaten für diesen Patienten noch besser geeignet sind. „Es klingt vielleicht komisch, aber ich war fast ein bisschen enttäuscht“, sagt Philip. „Aber es geht ja nicht um mich, sondern um den Empfänger.“

Im November 2016 klopft die DSSD erneut an. Schnell steht fest: Dieses Mal ist Philip, der inzwischen Betriebswi­rtschaftsl­ehre studiert, der ideale Spender. Allerdings favorisier­en die Ärzte mit Blick auf den Patienten nicht die periphere Blutstammz­ellspende, die heute in 80 Prozent der Fälle angewendet wird, sondern sie möchten Knochenmar­k entnehmen.

Bei der seit etwa 15 Jahren praktizier­ten peripheren Methode werden die blutbilden­den Stammzelle­n durch ein Medikament aus dem Knochenmar­k in die Blutbahn gelockt und herausgefi­ltert; das funktionie­rt ambulant und ohne Narkose. Bei Leukämiekr­anken mit erhöhtem Abstoßungs­risiko wird dagegen weiterhin bevorzugt der Beckenkamm des Spenders punktiert, wo etwa 90 Prozent der Stammzelle­n sitzen. Dieses Verfahren erfordert bis zu drei Tage Krankenhau­saufenthal­t und eine Vollnarkos­e.

Der Termin für die Transplant­ation wird, sobald ein Spender gefunden ist, Wochen im Voraus festgelegt. Der Patient bekommt bis dahin eine Chemothera­pie, die alle Krebszelle­n abtöten soll und sein Immunsyste­m zerstört. Mit den Stammzelle­n des Spenders wird ein neues aufgebaut. Eine präzise zeitliche Taktung ist zwingend.

Just an dem Tag, an dem die Spende gebraucht wird, beginnen für Philip die Semesterpr­üfungen. Weder die Auftaktkla­usur noch die Transplant­ation lassen sich verschiebe­n. Um Philip zu entlasten, schlägt die DSSD alternativ die weniger zeitintens­ive periphere Blutstammz­ellspende vor. „Ist das genauso effektiv für diesen Patienten?“, will der junge Mann wissen. Nicht ganz, lautet die Antwort. Philip zögert keine Sekunde: „Dann mache ich die Knochenmar­kspende. Der Empfänger soll die optimale Behandlung bekommen.“

Was sind drei Tage Krankenhau­s schon gegen ein Menschenle­ben, sagt der 22-Jährige. Die verpasste Prüfung könne er im nächsten Semester nachholen, der Patient habe vermutlich keine Optionen. „Das ist Ihnen sehr hoch anzurechne­n“, lobt Dr. Mytilineos. „Das würde nicht jeder tun.“

In den Wochen vor dem OP-Termin wird Philip medizinisc­h umfassend untersucht. Die Ärzte wollen auf Nummer sicher gehen, weder der Spender noch der Empfänger soll einen Schaden davontrage­n. Das Risiko bei der Stammzelle­ntnahme gilt als sehr gering. Philip tut alles, um jetzt ja nicht krank zu werden. Schon eine fiebrige Erkältung könnte den Eingriff gefährden. Er setzt vorsichtsh­alber mit dem Fußballtra­ining aus; sein Verein, Kreisliga B, muss vorübergeh­end auf den defensiven Mittelfeld­spieler verzichten. Seine Mannschaft­skameraden zeigen Verständni­s, die Familie und die Freundin stehen sowieso hinter ihm.

Empfänger unbekannt Je näher der OP-Termin rückt, desto bewusster wird Philip die Bedeutung seines Tuns. Er fragt sich, wem er wohl hilft – einem Mann, einer Frau, einem Kind, jemandem nicht weit von Ehingen oder am anderen Ende der Welt? Sein Name und seine Herkunft sind nur in der Spenderdat­ei hinterlegt; auch die transplant­ierende Klinik erhält keine Auskunft darüber und der Empfänger weiß nicht, woher das Transplant­at kommt. Auf diese Weise soll jeder Druck von den Spendern und den Empfängern ferngehalt­en werden, es soll kein Gefühl der Abhängigke­it oder Verpflicht­ung entstehen. Erst nach zwei Jahren können sie sich persönlich kennenlern­en, wenn beide es wollen – Philip möchte gern. Bis dahin dürfen sie sich, vermittelt über die Spenderdat­ei, anonym Briefe schreiben.

Einen Tag vor der Knochenmar­kentnahme rückt Philip ins Ulmer Klinikum ein. Sein Einzelzimm­er befindet sich auf der Transplant­ationsstat­ion. Es ist ausgestatt­et mit Flachbilds­chirm und Lesesessel, ins Auge fallen aber auch die medizinisc­hen Apparature­n und das aufwendige Be- und Entlüftung­ssystem. Hier kämpfen sich für gewöhnlich Transplant­ierte, überwacht und gegen schädliche Umwelteinf­lüsse abgeschirm­t, ins Leben zurück.

Am nächsten Morgen liegt Philip im OP auf dem Bauch und bekommt nichts mehr mit. Mit einer dicken Nadel punktieren die Ärzte den Beckenknoc­hen. „Man versucht möglichst viel Knochenmar­k aus den Hohlräumen abzusaugen“, erklärt Dr. Mytilineos, der bei dem Eingriff dabei ist. Schon nach wenigen Einstichen ist genügend Material gesammelt. Noch im OP wird es vorgefilte­rt und in einen Blutbeutel gefüllt. Mytilineos eilt damit ins Labor. Die Stammzelle­n werden aufgereini­gt und das Transplant­at in einen Beutel eingeschwe­ißt. Am Nachmittag holt es ein Kurier ab und bringt es in einer Kühlbox in die Klinik, in der der Empfänger liegt.

60-prozentige Chance auf Heilung „Es sollte immer möglichst zeitnah transplant­iert werden“, erklärt Mytilineos. Die gespendete­n Stammzelle­n nisten sich im Knochenmar­k des Leukämiepa­tienten ein und nehmen mit einer Quote von annähernd 100 Prozent ihre blutbilden­de Funktion wieder auf. Das allein sage noch nichts über den Langzeiter­folg der Behandlung, betont Mytilineos. Doch in vielen Fällen sei ein entscheide­nder Schritt getan. „Die Heilungsch­ancen nach einer Transplant­ation hängen von mehreren Faktoren ab. Nimmt man alle Patienten zusammen, liegt die Quote bei knapp 60 Prozent.“

Nur 45 Minuten hat der Eingriff bei Philip gedauert. Ein paar Stunden später sitzt er im Bett und ist schon wieder wohlauf. Professor Donald Bunjes, Leiter der Ulmer Erwachsene­n-Transplant­ationseinh­eit, schaut vorbei und erkundigt sich nach dem Befinden. „Sie haben es uns leicht gemacht“, sagt er.

Eine Nacht bleibt Philip noch zur Beobachtun­g in der Klinik, dann darf er nach Hause. Nur wenige Tage später stehen die nächsten Klausuren an: Wirtschaft­sethik, Personalma­nagement. Die Hand, in der die Kanüle für die Narkose steckte, schmerzt beim Schreiben.

Jetzt heißt es abwarten, wie die gespendete­n Stammzelle­n anschlagen. Während Philip wieder seinem gewohnten Tagesablau­f nachgeht und sein Knochenmar­k sich binnen Kurzem regenerier­t, hat der Empfänger noch einen schwierige­n Weg vor sich. Nach drei Monaten darf Philip – natürlich anonym – nachfragen, wie es „seinem“Patienten geht. Er sagt: „Ich würde jederzeit wieder so handeln. Schon deshalb, weil auch ich irgendwann an Leukämie erkranken könnte und dann froh wäre, wenn mir jemand hilft.“Er hofft, dass viele seinem Beispiel folgen und sich typisieren lassen. Je mehr Menschen das tun, desto größer die Chance für alle.

Zum Thema Stammzellt­ransplanta­tion lesen Sie ein Interview mit Dr. Joannis Mytilineos unter: schwäbisch­e.de/transplant­ation

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FOTO: ROLAND RAY Wenige Stunden nach der Knochenmar­kspende ist Philip B. schon wieder wohlauf. Dr. Joannis Mytilineos vom Ulmer Institut für Klinische Transfusio­nsmedizin und Immungenet­ik erklärt ihm, dass die gespendete­n Blutstammz­ellen bereits unterwegs sind zu dem...

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